Kennst du das? Besuch einer Ausstellung. Du schaust dir ein Kunstwerk an und hörst jemanden sagen: „Na, das hätte ich auch gekonnt.“ Klassiker. Und nun, was denkst du? „Ja, den Gedanken hatte ich auch gerade?“ oder „Richtig, denn du hast es nicht getan.“ Für beide Antworten ist dieser Sachbuchtipp bestens geeignet. Denn wir lernen, es geht vor allem um die Einstellung kreativer Menschen und den kreativen Prozess, nicht um das Ergebnis.
Perfektes Autoren-Duo
Neurowissenschaftler David Eagleman und Komponist Anthony Brandt sind Freunde und das perfekte Autoren-Duo, um über Kreativität zu schreiben. Ihre Expertise ergänzt sich und es macht großen Spaß ihrer Erzählung zu folgen. In ihrem Buch „Kreativität. Wie unser Denken die Welt immer wieder neu erschafft“ gehen sie den Fragen auf den Grund, wie Neues entsteht und was Kreativität eigentlich ist. Sie zeigen, dass wir diese Fähigkeit für viel mehr benötigen, als uns bewusst ist. Kreativität wird nicht nur für musisch-künstlerische Hobbies und Berufe gebraucht. Auch für alle anderen Disziplinen wie Wirtschaft, Sport und Technik ist sie notwendig und wir nutzen sie ständig im Alltag.
Aufbau: kreativer Dreisatz
Zu Beginn erfahren wir, wie unser Gehirn neue Reize verarbeitet und lernt. Dann werden drei Prinzipien der Kreativität eingeführt: Biegen, Brechen, Verbinden. Anhand von Beispielen wird gezeigt, wie diese Techniken in allen Bereichen Anwendung finden, um z.B. Musik zu komponieren, Gemälde zu schaffen, technische Innovationen zu entwickeln.
Im zweiten Teil geht es um eine kreative Einstellung, die uns das ganze Leben begleitet. Kreativität entsteht durch eine offene, flexible Haltung gegenüber Veränderungen. Eagleman und Brandt beschreiben auch wie das Umfeld Kreativität fördert. Das Buch ist gespickt mit Anekdoten aus dem Leben von kreativen Köpfen, wie Künstler:innen und Ingenieur:innen. Ständig wird eine neue, kuriose Geschichte einer weiteren Erfindung beschrieben. Die Auswahl und Kombination der zahlreichen Beispiele und besonders die Bezüge, die zwischen ihnen gezogen werden, sind originell. So macht die Lektüre Spaß.
Das Buch endet mit Impulsen zur praktischen Anwendung. An Beispielen aus Unternehmen und Schule, zeigen die Autoren, wie Kreativität genutzt wird, um aktiv unsere direkte Umwelt und damit unsere Zukunft zu gestalten. In einer Welt, die sich durch technologische, klimatische und gesellschaftliche Entwicklungen verändert, ist diese Haltung ermutigend und hoffnungsvoll.
Fazit
Dieses Buch wirkt nach. Es ist hilfreich analytisch auf Kreativität schauen zu können. Denn es entlarvt die Mythen rund um Kreativität, die sich scheinbar hartnäckig halten. So fliegt sie uns nicht zufällig zu, wie ein Musenkuss, sondern kann trainiert werden. Auch gibt es keine von Geburt prädestinierten Künstlergenies. Klar, es gibt Talente, doch wenn es um Kreativität geht, haben wir alle die gleichen Möglichkeiten, wenn wir diese Fähigkeit pflegen. Denn Kreativität ist vor allem Fähigkeit und Haltung und bezieht sich auf den Prozess, nicht auf die Qualität eines Ergebnisses.
Besonders auf zwei Ebenen nehme ich aus der Lektüre etwas mit. Zum einen hilft es mir bei der Lösungsfindung. Denn nun weiß ich, manchmal hilft ein Kopfstand, um eine neue Perspektive auf ein altes Problem zu gewinnen. Zum anderen hilft dieses Wissen leichter die kreative Leistung anderer zu erkennen.
Für mich ist eine der Botschaften des Buches: Sei kreativ, um selbstwirksam deine Gegenwart zu gestalten. Den Mut und die Freude zu Schaffen können wir sicherlich immer wieder neu gebrauchen.
Für wen ist dieses Buch?
Wenn dir Menschen in deinem Umfeld sagen, du seist nicht talentiert oder kreativ: Lies dieses Buch und suche dir einfühlsamere Menschen. Wenn du schon einmal von dir selbst gedacht hast, du wärst nicht kreativ genug: Lies dieses Buch. Du wirst merken, du bist täglich kreativer, als du denkst. Du merkst es nur nicht. Kreativität ist ein oft unbemerktes Talent, da es uns selbstverständlich erscheint.
Danke an den Siedler-Verlag und die Penguin Randomhouse Verlagsgruppe für das Rezensions-Exemplar.
Infos zum Buch
Titel: Kreativität. Wie unser Denken die Welt immer wieder neu erschafft
Wenn du gerne Bücher über Kreativität liest, interessiert dich bestimmt dieses Buchgespräch über das Sachbuch „Kreativität. Wie sie uns mutiger, glücklicher und stärker macht“ von Melanie Raabe.
Am 8. März ist Internationaler Frauentag. Das war dieses Jahr ein guter Grund zur Feier des Tages dieses Buch zu lesen: „Frauenliteratur. Abgewertet, vergessen, wiederentdeckt“ von Nicole Seifert. Ein kluges und feministisches Buch. Ich empfehle es allen Menschen, die gerne lesen. Es ist Augen öffnend!
Das Sachbuch der promovierten Literaturwissenschaftlerin und Bloggerin Nicole Seifert ist zurecht schon viel gelobt und besprochen worden. Die literarische Übersetzerin und ehemalige Lektorin analysiert jeden Winkel des Literaturbetriebs. Das macht große Freude.
Was soll Frauenliteratur eigentlich sein? Literatur von Frauen? Literatur für Frauen? Literatur von Frauen für Frauen? Das alles? Soll es ein Genre sein? Und ist es möglich die Vielfalt weiblicher Stimmen, Lebenswelten und Perspektiven mit einem Wort zu generalisieren? Selbstverständlich nicht!
Nicole Seifert entlarvt in ihrem Sachbuch misogyne Haltungen und Strukturen im Literaturbetrieb und zeigt, dass sich das System erst entwickelt, wenn sich an vielen Teilen des Ganzen etwas ändert und alles in Bewegung kommt. Von den Verlagsprogrammen über die Literaturkritik, Preisverleihungen und Literatur-Förderung genauso wie der Einkauf im Buchhandel bis zur Lektürewahl der Leser:innen – hier gilt es überall Gleichberechtigung zu leben. Seifert zeigt auf, dass dies leider noch nicht der Fall ist. Wir haben noch einiges vor uns.
Zu Beginn führt die Autorin mit ihrer persönlichen Geschichte als Leserin ein, die wie für die Aufgabe der Kanon-Revision geschaffen ist. Sie erzählt, wie sich ihr eigenes Leseverhalten langsam änderte. Vom Vater übernahm sie die Gewohnheit eine Lektüreliste zu führen. Um Klassiker von Männern zu lesen, konnte sie sich jederzeit am Bücherregal ihres Vaters bedienen. Um aber auch weibliche Stimmen zu lesen, musste sie sich die Bücher von Autorinnen selbst kaufen. Denn im Regal des Vaters dominierte die männliche Perspektive auf die Welt. Als sie nach ihrem Literatur-Studium ihr eigenes Leseverhalten reflektierte, fiel ihr auf, dass ebenfalls unverhältnismäßig wenig Autor:innen auf den Lektürelisten der Seminare standen. Das brachte alles ins Rollen. Seitdem engagiert sie sich für einen diversen Literaturbetrieb, so lancierte den Hashtag #frauenzählen, publiziert zum Thema, führt das Blog nachtundtag.blog, für das sie Bücher von Frauen bespricht.
Viele Fragen, kompetente Antworten
Warum ist der Kanon bis heute männlich dominiert? Wie kann er weiterentwickelt werden? Wie drückt sich bis heute Misogynie in der Literaturkritik aus? Warum werden bis heute mehr Bücher von Autoren verkauft? Wie kann der Literaturbetrieb diverser werden? Welche strukturellen Bedingungen müssen sich ändern, um Autor:innen in der Literatur mehr Sichtbarkeit zu ermöglichen? Welche Themen und Motive greifen Frauen in ihren Werken auf? Wo kann ich als Leser:in anfangen? Welche Autor:innen sollte ich lesen?
Neugierig geworden? Seifert wirft viele Fragen auf und beantwortet sie in ihrem Sachbuch versiert. Ihre Analyse liest sich eingängig und ist bei aller Professionalität auch für Nicht-Germanist:innen eine unterhaltsame Lektüre. Das Buch hat mich inspiriert als Leserin all die Lektüren und Perspektiven nachzuholen. Schön, dass ein vermeintlich literaturwissenschaftliches Thema ein breites Publikum gefunden hat. Das braucht es, um etwas zu verändern.
Danke an den KiWi-Verlag und netgalley.de für das digitale Rezensions-Exemplar. Das Buch werde ich mir für mein Bücherregal kaufen, um darin nachzuschlagen, es weiterzuempfehlen und vor allem es häufig zu verleihen.
Pinocchio, Pipi Langstrumpf, Nils Holgerson, Alice im Wunderland oder der kleine Prinz – viele Geschichten unserer Kindheit verdanken wir zum großen Teil dieser beeindruckenden Frau: Jella Lepman. Durch ihre Arbeit prägte sie ab 1945 bedeutend das kulturelle Gedächtnis in Deutschland. Welche Geschichten sollten Kindern nun vorgelesen werden? In einem Land, indem zuvor Bücher verbrannt wurden?
Die Kraft der Literatur
In „Die Kinderbuchbrücke“ beschreibt Jella Lepman rückblickend ihre kulturelle Arbeit im kriegszerstörten Deutschland. Das Buch erschien bereits 1969 zum ersten Mal. Im Jahr 2020 veröffentlichte der Kunstmann-Verlag eine kommentierte Neuauflage, die ich allen sehr ans Herz lege.
Jella Lepman kehrte 1945 nach Deutschland ins Land der Täter:innen zurück, um Humanismus und kulturelle Bildung in einem kriegszerstörten Land zu vermitteln. Den Faschismus aus den Köpfen bekommen… Wie sollte das funktionieren?
Lepman entschied sich dafür mit den Kindern zu beginnen und auf die Zukunft zu setzen: Literatur sollte helfen. Kein leichtes Unterfangen in einem Europa, das von Trauma und Hunger, Obdachlosigkeit und Armut geprägt war. In Deutschland mangelte es an allem – auch an Papier. Literatur für die Kleinsten schien für viele ein unbedeutender Luxus zu sein. Doch Lepman hielt daran fest. Gerade in dieser Situation brauche es Kultur, so Lepmans feste Überzeugung. Sie organisierte Literatur-Ausstellungen und Leseanlässe für Kinder. Sie sammelte internationale Kinderbücher, um Kindern und Jugendlichen in Deutschland mit der Internationalen Jugendbibliothek in München einen friedlichen Ort für ihre Kindheit und kulturellen Austausch zu schaffen.
Jella Lepman: Eine Frau mit Vision
Führe ich mir nun die persönliche Geschichte von Jella Lepman vor Augen, bin ich tief beeindruckt von ihrer menschlichen Größe. Denn Lepman floh in den 1930ern vor den Nationalsozialisten aus ihrer Heimat Deutschland. Sie verlor Familienangehörige und Freund:innen durch den Holocaust und doch kam die Journalistin und Kinderbuchautorin bereits 1945 als Offizierin der US-Army mit einem kulturellen Auftrag zurück ins Land der Täter:innen.
Für „Die Kinderbuchbrücke“ schrieb sie ihre Erinnerungen auf. Es sind Augenzeugen-Berichte aus dem Nachkriegsdeutschland. Mit ihrem Jeep fuhr sie durch zerstörte Städte und Landschaften und eruierte, was nötig und möglich war. Was sie im Gepäck hatte, war der Glaube an ihr Projekt und Interesse für Menschen. Dies half ein gutes Netzwerk auszubauen. Noch nie habe ich so detaillierte und lebendige Berichte aus der unmittelbaren Nachkiegszeit gelesen. Ich war erschüttert und habe aus der Lektüre viel gelernt.
Neuauflage: Eine runde Sache
In ihrem Vorwort ordnet Christiane Raabe den Text kritisch für die heutigen Leser:innen ein. Denn Raabe würdigt darin Lepmans Leistungen und schildert ihre Kriegserfahrungen. Sie weist aber auch daraufhin, dass Lepman gelegentlich rassistische Formulierungen in ihrem Text wählt, und dass obwohl sie immer für Menschenrechte, Demokratie, internationale Beziehungen und Humanismus eintrat. Ich denke, an diesem Zeitzeugnis ist erkennbar, wie tief Rassismus in unserer Sprache und damit auch im Denken verankert ist. Es zeigt, wie wichtig der Diskurs auf allen Seiten ist, um als Gesellschaft immer wieder alte Denkmuster zu hinterfragen und neue Worte für unsere Werte zu finden. Damit wir alle die Chance haben zu vermitteln, was uns auf dem Herzen liegt.
Als Leserin möchte ich zum Schluss mehr über diese bemerkenswerte Frau erfahren. Denn in ihren persönlichen Aufzeichnungen nimmt sich Jella Lepman selbst zurück. Am Ende rundet ein biografischer Teil die Lektüre ab. Anna Becchi berichtet darin, wie vielfältig und abenteuerlich das Leben von Jella Lepman verlief.
Auch die Anmerkungen der Herausgeber sind bereichernd. Sie erweitern den Text und schaffen Zusammenhänge. Sie füllten so mache meiner Wissenslücken. Ich lernte viel über den internationalen Kulturbetrieb der 1940er Jahre und erfuhr wie vielfältig Kulturschaffende die Kriegsjahre erlebten. In all der Not las ich viel Hoffnung und den Glauben an eine bessere Zukunft heraus.
Fazit
Wenn ihr darüber lesen möchtet,
…welche Kraft Literatur hat.
…dass es wichtig ist, für die eigenen Werte einzustehen.
…dass das Wirken einer Person einen Unterschied macht.
Dann lest dieses Buch!
Infos zum Buch
Titel: Die Kinderbuchbrücke
Autor: Jella Lepman
Herausgeber: Internationale Jugendbibliothek unter Mitarbeit von Anna Becchi
Verlag: Antje Kunstmann
kom. Neuauflage: 2020 (engl. Originalausgabe 1969)
Metropol von Eugen Ruge – was für ein Buch! Von der Geschichte bin ich erschüttert und beeindruckt von dieser schriftstellerischen Leistung.
Ruge verarbeitet die Geschichte seiner Großmutter literarisch. Die Handlung spielt 1936-1937 in stalinistischen Moskau. Terror versetzt die Bevölkerung in Schrecken. Täglich gibt es Verhaftungen, Todesurteile und zahllose Menschen werden in die Gulags (Arbeitslager) verdammt. Es kann jede:n treffen – für eine Verurteilung braucht es keinen Grund. Neben diesem Terror ist die propagandistische Fassade immer präsent: rasanter technologischer Fortschritt, der Bau der Metro, Häuser, die versetzt werden und der erste Mensch im Weltraum. Doch im Alltag überall Mangel und Armut.
Charlotte wird mit ihrem Mann vom sowjetischen Geheimdienst suspendiert und im Hotel Metropol einquartiert. Dort harren sie aus. Immer das Gefängnis vor Augen. Wird es für sie gut ausgehen? Eine erschütternde Geschichte basierend auf historischen Quellen. Ruge gelingt es Daten und ihm bekannte historische Fragmente zu einer psychologisch authentischen Erzählung zu verweben.
Wir verfolgen die Geschichte aus der Perspektive von drei Protagonist:innen: Charlotte, Hilde, Ulrich. Wir begleiten sie und erfahren alles aus ihrer Sicht in Rückblenden und zeitlich versetzt. Alle drei Zweifeln trotz allem nicht am Sozialismus und vertrauen Stalin. Ihre persönlichen Wahrheiten passen sich an die Entwicklungen an.
Einfach wow! Nun steht auch die Famliensaga „In Zeiten des abnehmenden Lichts“ von Eugen Ruge auf meiner Leseliste.
„Die vierzig Geheimnisse der Liebe“ von Elif Shafak hat mir eine Freundin empfohlen. Wir haben es nun gemeinsam gelesen.
Ella hat sich im Alltag mit Familie verloren und nimmt einen neuen Job als Literaturgutachterin an. Wie sollte es anders kommen – der erste Auftrag stellt ihr Leben auf den Kopf. Sie widmet sich einem Roman, der die spirituelle Beziehung des Wanderderwischs Schams und des Sufi-Dichters Rumi thematisiert und dabei 40 Geheimnisse der Liebe teilt. Während dieser Arbeit verliebt sie sich in Aziz, den Autor des Romans.
Ella liebt Aziz. Schams liebt Rumi. Und andersherum – das ist hier Programm. Damit meine ich diese Verbindungen zwischen Figuren, auch über Jahrhunderte hinweg. Dieses Wechselspiel zieht sich durch den ganzen Roman.
Es beginnt schon auf der formalen Ebene, da es einen Roman im Roman gibt und es geht so weit, dass dem fiktiven Autor Aziz Ähnlichkeit mit der historischen Person Schams-e Tabrizi zugesprochen wird. Dieser Beziehung verleiht der Autor durch eine literarische Figur in seinem Werk Ausdruck. Bezüge, wo man hinschaut.
Zu Beginn ist es mir recht schwergefallen, mich auf die Geschichte einzulassen. Der Charakter der Protagonistin Ella war mir zunächst unsympathisch und voller Klischees. Ich hatte den Eindruck, dass das Buch nichts für mich ist. Das hat sich aber im Verlauf der Lektüre geändert, da sich Ella weiterentwickelte und die Figur damit an Komplexität gewann und zugänglicher wurde. Besonders das Ende hat mich berührt.
Auch der Austausch mit der Freundin war wichtig, um noch eine andere Perspektive auf die Geschichte zu bekommen. Das Buch werde ich nun an die nächste Leserin weitergeben.
„Die vierzig Geheimnisse der Liebe“ ist das erste Buch, das ich von Elif Shafak gelesen habe. Ich ahne, dass ich noch weitere Bücher von ihr lesen muss. Denn mich interessiert nun der Zusammenhang dieses Romans zum Gesamtwerk. Daher habe ich nun als literarische Klammer „Der Bastard von Istanbul“ und „Schau mich an“ auf meine Leseliste gesetzt.
Gerade habe ich dieses Buch gesnackt: „Papierklavier“ von Elisabeth Steinkellner. Ein Jugendbuch, das schon einige Preise abräumte. Einen Preis jedoch nicht. Das ist eine unverständliche Geschichte, die dem Buch immerhin mehr Bekanntheit verschaffte. Dazu gleich mehr.
Falls ihr Teenager beschenken möchtet, ist dieses Buch perfekt. Eine positive (aber nicht geschönte) Coming-of-Age-Geschichte in der Form eines fiktionalen Tagebuchs. Wunderschön illustriert von Anna Gusella.
Inhalt
Maia ist 16 und hat’s nicht leicht: sie lebt mit ihren beiden kleinen Schwestern und ihrer alleinerziehenden Mutter in einer Zwei-Zimmerwohnung. Gerade trauern sie um ihre geliebte Zieh-Oma.
Maias Mama ist immer sehr müde. Denn sie arbeitet viel, um über die Runden zu kommen. Auch Maia jobbt nach der Arbeit in einem Saftladen, um ihrer Familie zu helfen und sich selbst manchmal eine Kleinigkeit zu gönnen. Das ist aber nur selten der Fall, denn nun schiebt sie sogar extra Schichten, um ihrer talentierten Schwester Klavierunterricht zu ermöglichen. Trotz großer Herausforderungen hat sie eine liebevolle Familie. Maia wünscht sich nur, dass ihre Mutter weniger arbeiten müsste und mehr Zeit für die Familie hätte. Zeit haben Maias beste Freund:innen Alex und Carla, auf die sie sich verlassen kann. Zusammen geht’s auf Partys, lachen, lieben, das Leben feiern.
Maia vertraut sich ihrem Tagebuch an. Sie schreibt und zeichnet über schöne und traurige Erlebnisse, ihre Zweifel und klugen Alltags-Analysen. Wir lesen also ein illustriertes Tagebuch und verfolgen die Geschichte in der Ich-Perspektive.
Maia ist eine liebenswerte und selbstbewusste Romanheldin. Sie ist eine gute Freundin, eine fürsorgliche Schwester und eine verantwortungsbewusste Tochter – und sie kann richtig gut zeichnen. Sie hat dennoch ihre Selbstzweifel und kämpft manchmal mit den Kilos. Im eigenen Körper fühlt sie sich noch etwas unwohl und fremd – dieses Gefühl eines Teenagers ist sicherlich ein zeitloses Thema und unabhängig von Maßen und Normen. Maia entdeckt ihre Talente und Stärken. Sie ist kreativ und witzig – darauf ist sie stolz. Im Laufe der Zeit wächst in ihr der Wunsch Grafikerin zu werden. Und vielleicht verliebt sie sich zum ersten Mal.
Im Alltag begegnet Maia vielen Vorurteilen. Sei es selbst als übergewichtige Frau oder aufgrund von Armut. Ihre Familie wird stigmatisiert, denn Mitmenschen verurteilen ihre alleinerziehende Mutter, da jede Tochter einen anderen Vater hat. Niemand fragt, nach der Geschichte der Familie. Ihre transsexuelle Freundin Carla erlebt häufg Diskriminierung. Doch sie alle lassen sich nicht unterkriegen und holen sich selbstbewusst, was sie sich vom Leben wünschen.
Illustrationen
Das Buch hat mich nicht nur mit der einfühlsamen Geschichte überzeugt, sondern auch mit den zweifarbigen Illustrationen. Bild und Text sind miteinander verwoben. Meist illustriert die Grafik den Text, doch manchmal ergänzt der Text wiederum das Bild. Beides ist perfekt aufeinander abgestimmt. Ich frage mich, gab es zuerst den Text? Oder wurde Bild und Text parallel kreiert? Die Gestaltungsform vermittelt den Eindruck eines richtigen Tagebuchs. Auf der Website der Illustratorin gibt’s einen Blick ins Buch.
Preise
Das Jugendbuch hat 2020/21 verschiedene Preise abgeräumt (Preis-Liste auf der Verlags-Website). Von einer Fachjury wurde das Buch für den Katholischen Kinder- und Jugendbuch-Preis 2021 vorgeschlagen. Die Bischöfe lehnten die Nomierung ab. Die Jury blieb allerdings bei ihrer Wahl. Daher wurde der Preis im letzten Jahr nicht verliehen. Begründung des Ständigen Rates: Das Buch entspräche nicht den Kritieren des Preises. Eine genauere Erklärung wurde nicht abgegeben. Man kann nur spekulieren. Es folgte neben öffentlicher Kritik auch ein offener Brief von 222 Kinderbuch-Autoren und -Illustratoren. Das Buch bildet die Lebensrealität junger Erwachsener ab: Tod, Armut, Sex und queere Lebensentwürfe. Die Eminzenen fanden’s nicht preisverdächtig. Aber viele Käufer:innen lesenswert! Inzwischen ist die 5. Auflage erhältlich.
Fazit
Die Geschichte ist viel zu schnell gelesen. Sie ist dicht erzählt und darin steckt eine große thematische Bandbreite. Die Charaktere sind klug und selbstbewusst. Ich lese darin Liebe, Freundschaft, Loyalität, Zuversicht und Mut. Auch den unschönen Seiten des Lebens Romane mit selbstwirksamer Botschaft zu widmen, finde ich sehr wichtig. Als Geschenk für Jugendliche ab 15 Jahre geeignet. Mein Fazit: Unbedingt lesen – auch Erwachsene!
Ein Bücherstapel in meiner Timeline. Ich sehe ein Foto von Jennys neuen Secondhand-Büchern. Ein Cover blitzt mich an. Das ist es! Dieses Buch brauche ich für meinen Blog, um zu zeigen, weshalb Gespräche über Bücher wichtig sind: „Worüber wir sprechen, wenn wir über Bücher sprechen“ von Tim Parks. Jenny und ich unterhielten uns über Lesegewohnheiten, Perspektivwechsel, literarische Übersetzungen und die Nobelpreis-Jury. Und haben viel gelacht.
Meine Gesprächspartnerin
Am liebsten kauft Jenny Bücher gebraucht und ihr Blog läuft selbstverständlich mit Öko-Strom. Anfang 2021 hat sie ihren grünen Blogjennysview.de gestartet. Dort schreibt sie über einen nachhaltigen Lebensstil. Sie zeigt, dass es bei diesem Thema nicht um Perfektion geht, sondern dass viele kleine Dinge zählen, um einen großen Unterschied zu machen. Es ist wichtig sich auf den Weg zu machen und offen für neue Lösungen zu sein. Ihre neuen Erkenntnisse, nützlichen Tipps und Buchempfehlungen für ein klimafreundliches Leben sind sehr lesenswert. Früher hatte Jenny einen reinen Buchblog. Ihre Bücherliebe lässt sich noch in ihrem ehrgeizigen Leseziel für 2021 erkennen, das sie inzwischen übertroffen hat. 2021 hat sie mit 89 Lektüren abgeschlossen.
Zum Inhalt
In „Worüber wir sprechen, wenn wir über Bücher sprechen“ erklärt Tim Parks uns Leser:innen die Buchbranche in ihrem Facettenreichtum. In vier Teilen nimmt er uns mit auf die Reise. Er beginnt mit dem persönlichen Leseerlebnis, erklärt uns dann die Regeln des Literaturbetriebs, und lädt uns schließlich ein, die Perspektive der Autor:innen kennenzulernen. Zum Schluss geht es, um das, was mit einem Buch passiert, wenn man es in die Welt hinauslässt.
Buchgespräch mit Jenny
Wiebke: Diesmal geht es, um das Sachbuch „Worüber wir sprechen, wenn wir über Bücher sprechen“ von Tim Parks. Lass uns mit einer kurzen Zusammenfassung des Buches beginnen. In diesem Fall fiel es mir schwer.
Jenny: Ich habe einen Satz.
Wiebke: Du hast es in einem Satz zusammenfasst? Sehr minimalistisch – passend zu deinem Blog-Thema.
Jenny: Ich habe notiert:
Ein Buch, das die Buchwelt von Leser:innen über Autor:innen und Verlage bis zu Übersetzer:innen und Preisverleihungen beleuchtet.
Wiebke: Gute Lösung. Entweder du beschreibst es ausführlich oder du sagst es, wie es ist: Er versucht die ganze Buchwelt zu erklären.
Jenny: Das Buch hat so viele Facetten. Parks schaut sich die Buchwelt an und beschreibt wer wie agiert. Dazu hat er einige Male eine deutliche Meinung. Ich bin nicht mit allem einverstanden. Aber das muss man auch nicht.
Sobald in einem Buchtitel die Wörter „Buch“ oder „Lesen“ vorkommen, weiß ich: Das muss ich haben.
Jenny
Buch für Buchfans
Wiebke: Das Sachbuch habe ich bei dir im Instagram-Feed entdeckt. Ich dachte das Thema brauche ich für meinem Blog. Warum hast du dieses Buch damals gekauft?
Jenny: Ich lasse mich von Titeln und Covern schnell fangen. Sobald in einem Buchtitel die Wörter „Buch“ oder „Lesen“ vorkommen, weiß ich: Das muss ich haben. Hinzu kam, dass ich vom Autor Tim Parks schon zwei Bücher gelesen habe. Daher wusste ich schon, dass mir sein Schreibstil gefällt.
Wiebke: Ich hatte vorher noch keinen Titel von Tim Parks gelesen. Welche kennst du schon?
Jenny: Ich habe sowohl ein Sachbuch als auch einen Roman von ihm gelesen: „Die Kunst stillzusitzen“ und „Sex ist verboten“. Im Kapitel 25 beschreit Parks, dass Autor:innen ihre Stimme und ihre Arbeit im Laufe der Zeit zwangsläufig verändern. Aber Leser:innen sind davon häufig irritiert, da die Autor:innen anders schreiben als bisher. In diesem Kapitel beschreibt Parks, dass er mit zwei Büchern für irritierte Reaktionen bei Fans sorgte. Das waren die beiden Bücher, die ich bereits von ihm gelesen hatte. Daher hat mir der Bezug im Text gefallen.
Wiebke: Beschreibt er in diesem Kapitel auch, dass Autor:innen, wenn sie ein anderes Genres schreiben möchten, ein neues Pseudonym brauchen? Das wird nämlich im Buch thematisiert. Mir war vorher gar nicht bewusst, dass Schriftsteller:innen so stark mit einem Thema identifiziert werden und die Positionierung so starr ist.
Du sprichst mit deinem Beispiel einen guten Punkt an. Denn es gibt im Buch öfter Bezüge, die ich, durch die fehlende Lektüre, nicht verstand. Seien es Hinweise zu seinen eigenen Büchern oder anderer Literaten. Das war schade. Das Buch konnte ich zwar trotzdem verstehen. Aber für Literaturkenner:innen sind bestimmt noch Ebenen enthalten, die mir entgangen sind. Dennoch musste ich manchmal beim Lesen lachen.
Jenny: Er zitiert oft englischsprachige Klassiker. Ich musste viel recherchieren, um zu erfahren, wer gemeint ist. Das waren die zähen Stellen. Er kritisiert sogar dieses Verhalten und kann es doch selbst nicht lassen:
„Aber mehr noch als die Handlungen etablieren Rushdies dauernde Sprachfeuer, die vielen Pointen und Wortspiele und seine erbarmungslos zur Schau gestellte Belesenheit schnell eine Hierarchie, in der der Autor/Erzähler dominiert und dem Leser nichts anderes übrig bleibt, als in untätiger Bewunderung zu erstarren oder, falls das nicht klappt, sich zu ärgern.“
Worüber wir sprechen, wenn wir über Bücher sprechen, Kapitel 18.
Wiebke: Parks ist seit Jahrzehnten in der Branche aktiv – in so vielen Rollen. Er ist Wissenschaftler, Autor, Übersetzer und Journalist. Er ist Jahrgang 1954 und schon immer Literatur begeistert, wie er es im Buch beschreibt. Er ist Engländer, lebt in Italien und ist kulturell auch Richtung USA orientiert. Die Startseite seines Browsers zeige den Literaturteil des Guardian, so Parks. Das alles kann er nicht so leicht abschütteln. Dieses Buch ist seine persönliche Sicht auf den Literaturbetrieb. So tief werde ich niemals in diese Branche eintauchen. Aber es war sehr nett, davon einen kleinen Einblick zu bekommen.
Jenny: Er macht im Buch darauf aufmerksam, dass die Bewertung stark mit dem persönlichen Hintergrund zusammenhängt. Wir als Personen, die Rezensionen schreiben, wissen: Natürlich ist jede Bewertung individuell. Er unterstreicht, dass es für eine Bewertung aber wichtig ist, wie und wo wir aufgewachsen sind und was wir bisher erlebt haben. Dadurch werden Bücher von Leser:innen ganz individuell wahrgenommen, obwohl im Zweifel jeder das gleiche Buch liest. Jeder Mensch zieht seine eigenen Facetten aus einer Geschichte. Das habe ich mir vorher nie so bewusst gemacht.
Wiebke: Das ist der Grund, weshalb ich gerne mit vielen verschiedenen Menschen für den Blog über Bücher spreche. Über Bücher zu sprechen ist ein guter Türöffner, um auf neue Themen zu kommen und über den Gesprächspartner oder die Gesprächspartnerin etwas zu erfahren.
Es gibt Zitat, dass gut erklärt, weshalb ich gerne über Bücher spreche oder warum ich es interessant finde, in welchen Worten eine Person ein Buch zusammenfasst:
„Inzwischen ist es schon ein Gemeinplatz, dass es eine ,korrekte‘ Art Bücher zu lesen, nicht gibt: jeder von uns findet in einem Roman etwas anderes. Über spezifische Leser und spezifisches Leseverhalten wird jedoch kaum geredet, und die Rezensenten liefern uns nach wie vor Interpretationen, die, wie sie hoffen, richtungsweisend oder sogar endgültig sind. […] Würden wir [die Rezensenten] alle einmal beschreiben, was uns geprägt hat, könnte das ein wenig Licht auf unsere unterschiedlichen Wahrnehmungen werfen.“
Worüber wir sprechen, wenn wir über Bücher sprechen, Kapitel 8.
Globaler Roman und literarische Übersetzungen
Wiebke: Welche Themen sind dir im Gedächtnis geblieben?
Jenny: Mich hat fasziniert, dass wir in Europa wohl gerne übersetzte Bücher aus dem amerikanischen Raum lesen. Es war mir nicht klar, dass wir, die mit amerikanischen Filmen, Serien, Büchern usw. aufgewachsen sind, davon stark geprägt wurden. Uns ist diese Kultur so bekannt, dass wir uns leicht in diesen Medien wiederfinden. Vielleicht gilt das für die gesamte englischsprachige Popkultur. Wenn ich mir das bewusst mache, bemerke ich, dass der Zugang für mich schwieriger ist, wenn ich einen Roman aus einer anderen Kultur lese. Das hat mich nachdenklich gemacht.
Dazu passen auch seine Gedanken zum „globalen Roman“. Man muss sich als Autor:in ans Publikum anpassen, damit die internationale Leserschaft Lust hat das Buch zu kaufen. Wenn ein Buch zu speziell ist und die Zielgruppe zu klein, veröffentlichen Verlage es nicht. Ich frage mich, wie viele gute Bücher gehen uns dadurch durch die Lappen?
Wenn ein Buch zu speziell ist und die Zielgruppe zu klein, veröffentlichen Verlage es nicht. Ich frage mich, wie viele gute Bücher gehen uns durch die Lappen?
Jenny
Wiebke: Tim Parks erklärt auch, was es für ein enormes Tempo braucht, um – kurz nach der Erstveröffentlichung in der Originalsprache – schon die Übersetzungen auf den Markt zu bringen. Teilweise arbeiten mehrere Übersetzer:innen gleichzeitig daran.
Jenny: Die Autor:innen arbeiten mehrere Jahre an einem Buch und die Übersetzer:innen sollen das schnell aus dem Ärmel schütteln. Klar, sie müssen die Geschichte nicht entwickeln. Aber Parks beschreibt, was das Übersetzen für eine herausfordernde und komplexe Arbeit ist. Es ist doch beeindruckend, wie in dieser kurzen Zeit vernünftige und gute Übersetzungen gelingen.
Wiebke: Falls dich das Thema literarische Übersetzung interessiert, habe ich vor ein paar Wochen eine sehr interessante Podcast-Folge von „Salon Holofernes“ gehört. Das ist der Podcast der Musikerin Judith Holofernes. Es geht in dem Podcast um kreatives Schaffen und kreative Berufe. In der ersten Folge interviewt sie ihre Mutter, die literarische Übersetzerin ist. In der Folge geht es um den Beruf und sie beschreibt, wie sie sich an eine Literatur-Übersetzung herantastet, wie der Prozess ist und welches Tempo gefordert ist. Sie schildert auch, wie sie in der Branche überhaupt Fuß fasste. Die Folge kann ich sehr empfehlen.
Ich schaue nun öfter danach, wer der Übersetzer oder die Übersetzerin eines Buches ist. Dafür habe ich aber noch kein Wissen aufgebaut. Das entwickelt sich erst mit der Zeit.
Müssen wir Bücher zu Ende lesen?
Wiebke: Hast du eine Lieblings-Passage?
Jenny: Ja, das zweite Kapitel: Sollen wir Bücher zu Ende lesen? Früher war ich der Meinung: Ich muss das. Mittlerweise denke ich: Nein, das muss ich nicht. Vor dem Gespräch habe ich die Zahl noch einmal recherchiert. 2020 sind in Deutschland knapp 70.000 Bücher veröffentlicht worden. Diese Menge werde ich noch nicht einmal in meinem ganzen Leben lesen können. Jedes Jahr erscheinen wieder viele neue Bücher. Meine Zeit ist zu knapp, um mich mit einem Buch zu beschäftigen, das mich nicht fesseln kann. Wenn mich ein Buch nach spätestens 100 Seiten nicht überzeugt hat, lege ich es weg. Ich lese schließlich in der Freizeit aus Spaß, um eine schöne Zeit zu verbringen.
Parks behauptet, wenn Leser:innen ein Buch gut gefällt, sollte man eventuell aufhören, wenn es am schönsten ist.
Jenny
Aber Tim Parks ist in diesem Kapitel noch weitergegangen. Er behauptet, wenn Leser:innen ein Buch gut gefällt, sollte man eventuell aufhören, wenn es am schönsten ist. Denn im Zweifel könnte das Ende nicht gefallen und den Eindruck verändern. Er selbst hätte gerne Hamlet ohne das Blutbad am Ende gelesen. Ich kann den Gedanken nachvollziehen. Manchmal wünschte ich mir ein Kapitel früher aufgehört zu haben.
Wiebke: Das hat mir auch gut gefallen. Obwohl ich nicht weiß, ob ich damit komplett mitgehe. Einfach aufhören, weil die Handlung nicht nach dem eigenen Geschmack ist… Man muss schließlich auch andere Perspektiven aushalten können. Aber das meint er wohl nicht damit. Ich mochte daran besonders, dass er das Abbrechen nicht nur für ungebliebte Bücher vorschlägt, sondern es auch selbst mit guten Büchern so hält. Das habe ich selbst noch nie getan.
Jenny: Ich auch nicht.
Wiebke: Manchmal passiert das zufällig. Dann steht das Buch im Regal und wartet darauf fertig zu gelesen zu werden. Dann hatte ich bisher immer ein schlechtes Gewissen. Aber mit dieser Einstellung ist es viel einfacher. Es sind Bücherberge von mir abgefallen.
Jenny: Enden sind auch nicht einfach. Jede:r hat eine andere Meinung, wie ein Buch enden darf. Mir hat noch nie jemand gesagt, dass man ein gutes Buch nicht zu Ende lesen muss.
Wiebke: Für diese Erkenntnis hat sich dieses Buch allein schon gelohnt. Das Buch hat aber generell so einige Überraschungen bereitgehalten.
Literatur-Preise
Wiebke: Parks hat das Thema Preisverleihungen im Kapitel 9 kritisch beäugt. Es gibt eine Passage über den Nobelpreis für Literatur.
Um sich ein Urteil über die Nominierungen für den Literatur-Nobelpreis bilden zu können, müsste, so Parks, ein Jurymitglied jedes Jahr ungefähr 200 Bücher lesen. Dies zusätzlich zum dem regulären Arbeitspensum – meist als Professor:in einer schwedischen Universität. Viele dieser Werke erscheinen nicht auf Schwedisch und auch nicht jeder Titel liegt in einer englischen Übersetzung vor. 2011 hat die Jury dem schwedischen Schriftsteller Tomas Tranströmer den Preis verliehen. Bei seiner Einschätzung am Ende des Kapitels musste ich lachen:
„Wie erleichternd muss es unter diesen Umständen sein, ab und zu einfach zu sagen, he, was soll’s jetzt zeichnen wir mal einen Schweden aus, im diesem Fall den Achtzigjährigen, der als größter Dichter seines Landes gilt und dessen Werk, wie Peter Englund [damaliger Jurypräsident] so charmant bemerkt, in einem einzigen schmalen Taschenbuch Platz fände. Kurz gesagt einen Gewinner, den die komplette Jury innerhalb weniger Stunden im reinen und vortrefflichen schwedischen Original zu lesen vermag. Vielleicht brauchten die Juroren mal ein Sabbatical. Ganz abgesehen vom in den heutigen Krisenzeiten nicht unwichtigen Nebeneffekt, dass der mit fast einer Million Euro dotierte Preis so in Schweden verbleibt.“
Worüber wir sprechen, wenn wir über Bücher sprechen, Kapitel 9.
Jenny: Wenn man das wieder im Zusammenhang mit dem Kapitel über literarische Übersetzung betrachtet: Liest die Jury die Titel in Übersetzungen? Kann man ein Buch wirklich beurteilen, wenn man es nicht im Original liest? Bei der Übersetzung gibt es schließlich die Gefahr, dass dabei etwas verloren ging oder in der Übersetzung etwas anders ausgedrückt wird, als von den Autor:innen gemeint.
Wiebke: Das heißt Bücher werden eher in englischer oder schwedischer Übersetzung von der Jury gelesen. Bücher ohne Übersetzungen in diese Sprachen, werden wohl nicht berücksichtigt. Daher entspricht die Verleihung eher einem eurozentristischen Literaturkanon.
Jenny: Parks schildert aber auch, dass Preise genutzt werden, um politische Statements zu setzen. Man sollte Literaturpreisen als Leser:in also nicht zu viel Wert beimessen.
Wer sollte das Buch lesen?
Wiebke: Hat dir das Buch denn gefallen?
Jenny: Tim Parks hat sich über die Buchwelt viele Gedanken auf den verschiedenen Ebenen gemacht. Ich finde das super interessant. Ich denke zwar, es wird nicht maßgeblich mein Lesen verändern. Aber vielleicht in dem Punkt, dass ich mal wieder Bücher erwischen möchte, die weniger bekannt sind. Vielleicht werde ich etwas reflektierter lesen. Vielleicht frage ich mich eher, weshalb mir ein Buch gefällt.
Wiebke: Für mich hat es angestoßen stärker über meine die zukünftige Buchauswahl nachzudenken: Welchem Buch gebe ich eine Bühne? Möchte ich einen Hype befeuern? Was habe ich in einer Diskussion beizutragen? Braucht es eine kritische Stimme? Welche Bücher sind bisher wenig besprochen worden?
Das Buch hat mich darin bestärkt zukünftig vielfältiger zu lesen. Bücher sind eine Möglichkeit verschiedene Perspektiven aufs Leben zu bekommen. Das war mir nicht neu. Aber Parks ermöglicht mir als Hobby-Leserin einen neuen, größeren Blick auf den internationalen Literaturbetrieb, der mir sonst verborgen bleibt.
Jenny: Als Blogger:innen neigen wir auch dazu, die Neuerscheinungen zu bewerten, weil wir häufig Rezensionsexemplare erhalten. Es kommen jedes Jahr viele neue Bücher auf den Markt. Viele davon gehen unter, wenn keine große Medienkampagne gefahren wird. Backlist-Titeln schenke ich nun wieder mehr Aufmerksamkeit.
Wiebke: Würdest du das Buch denn empfehlen?
Jenny: Es ist ein Buch für Personen, die sich für den Literaturbetrieb interessieren. Wir erfahren, wie wir als Leser:innen ticken, wie Übersetzer:innen arbeiten, wie die Verlagswelt funktioniert, wie ein Buch in die Welt kommt. Viele, die sich mit Buchblogs beschäftigen, finden es bestimmt spannend.
So wie du es am Anfang treffend gesagt hast: Ein Buch für Menschen, die gerne das Wort „Buch“ im Titel haben.
Wiebke
Wiebke: Man muss sich mit Büchern auf einer Metaebene auseinandersetzen wollen. Es ist zwar schon ein populärwissenschaftliches Sachbuch, aber für eine spezielle Zielgruppe: für interessierte Laien. So wie du es am Anfang treffend gesagt hast: Für alle Menschen, die gerne das Wort „Buch“ im Titel haben.
Jenny: Ja, so wie für mich. Aber nicht für alle geeignet. Da fallen mir andere Bücher ein.
Wiebke: Welcher Titel wäre das denn zum Beispiel? Hast du zum Schluss für alle noch einen Buchtipp?
Surie ist 57 und schwanger. Damit hat sie nicht mehr gerechnet. Sie hat Angst dem Ansehen der Familie zu schaden. Und sie trauert noch, um ihren Sohn. Sie steckt in einem Dilemma. Ihre Lösung: Die Schwangerschaft muss geheim bleiben. Auch vor ihr selbst. Die 10-fache Mutter ignoriert lange alle Zeichen. Ihre Welt ist aus dem Gleichgewicht. Schließlich ist sie seit 40 Jahren glücklich verheiratet. Doch nun fehlen dem Paar die Worte. Surie lebt mit ihrer Familie in einer chassidischen Gemeinde in Brooklyn. Nun beginnt sie sich zu emanzipieren.
Mir hat der einfühlsame Erzählstil von Goldbloom und die differenzierten Charakterzeichnungen ihrer Figuren gefallen. Sie erzählt die Geschichte einer Frau, die einen Weg finden möchte ihre Gemeinschaft zu gestalten. Surie denkt nicht darüber nach ihr Leben zu verlassen, sondern möchte es positiv verändern – auch wenn das nicht einfach ist.
Für den Roman „Eine ganze Welt“ bekam Goldie Goldbloom den Jewish Fiction Award 2020. Die Geschichte war für mich besonders vor dem Hintergrund sehr spannend, da ich in verschiedenen Artikeln las, dass die Autorin selbst als queere Chassidin lebt und sich in der LBGT-Bewegung engagiert.
Das Buch habe ich in Ergänzung zu „Unorthodox“ gelesen. Der Plot von „Eine ganze Welt“ ist bewegend und es wird nichts beschönigt. Themen wie Suizid, Missbrauch und Homophobie kommen vor. Der Roman wirkt noch eine Weile nach. Eine große Empfehlung von mir.
Möchte ich Mutter sein? Wie fühlt es sich an, wenn die biologische Uhr tickt? Oder sind es nur die Erwartungen von Familie und Freund:innen, die ich fühle? Möchte ich Mutter sein, weil scheinbar alle ein Kind bekommen? Bin ich erst eine Frau, wenn ich Mutter bin? Werde ich es später bereuen, wenn ich kein Kind bekomme? Meine Partner:in möchte eine Familie. Wie sieht unsere Zukunft aus? Könnte ich eine gute Mutter sein? Diesen inneren Monolog kennen viele. Er geht noch viel weiter.
Die namenlose Protagonistin in Linn Strømsborgs Roman „Nie, nie, nie“ will keine Mutter werden – niemals. Diese Prämisse für einen Roman hat mich neugierig gemacht. Die Autorin widmet dem Für- und Wider, um das komplexe Thema Mutterschaft ihren Roman und zeigt vielfältige Frauenbilder und Lebensmodelle.
Wir folgen der Ich-Erzählerin in ihren Gedankengängen – erfahren, weshalb sie keine Kinder haben möchte und lesen welchen Erwartungen und Bewertungen sie daher von Fremden, Familie, Partnern und Freund:innen ausgesetzt ist und wie sie sich dazu positioniert. Neben der differenzierten Darstellung der Gründe für ein Leben ohne Kinder, haben mir am besten die Beschreibungen der Großmütter und Mütter in ihrem Umfeld gefallen, die ihre Rolle jeweils recht unterschiedlich leb(t)en. Dynamik kommt in die Handlung als die beste Freundin schwanger wird und sich in ihre neue Rolle als Mutter einfindet.
Von den Protagonist:innen war ich oft genervt, was aber reizvoll war. Auch wenn mir die Handlungen der Figuren nicht immer sympathisch waren, sind sie doch nüchtern und schlüssig charakterisiert. Als Leserin konnte ich zu den Figuren eine Beziehung aufbauen und war ganz in die Geschichte versunken.
Auch wenn mir der Roman insgesamt gut gefallen hat, zum Schluss hat er mich dennoch etwas ratlos zurückgelassen. Es hat für viele Romane seine Berechtigung das Ende mit einem Fragezeichen zu beenden. Schließlich ist Literatur nicht dafür da, uns die Welt abschließend zu erklären. Doch hier empfinde ich das Ende als unpassend, sofern es im Roman darum gehen sollte die bewusste Entscheidung gegen Kinder als einen von vielen gleichwertigen Lebensentwürfen zu zeigen. So habe ich die Geschichte jedenfalls interpretiert und daher hätte ich mir das letzte Kapitel aus der Perspektive des Ex-Partners gerne gespart.
Ich finde den Roman wichtig, weil er dem Thema gewollte Kinderlosigkeit nuanciert begegnet. Denn es ist – wie so oft – nicht einfach. Strømsberg zeigt, dass diese Entscheidung ein Prozess ist und ein Ringen mit sich selbst sein kann.
„Das Lied der Arktis“ ist mein Lektüre-Liebling 2021. Es beginnt damit wie die junge Uqsuralik in der Kälte ums Überleben kämpft, als sie von ihrer Familie getrennt wird.
Selten hat mich in letzter Zeit ein Roman so sehr in den Bann gezogen. Ich war als Leserin dabei – an einem Ort mit Jahreszeiten, aber ohne Jahreszahl – und habe die Schönheit der Natur und ihre Grausamkeit gesehen. Ich durfte die Kultur der Inuit kennenlernen: ihre nomadische Lebensweise, ihren Glauben, ihre Musik, ihre Poesie.
Der Roman zeigt einen anderen Blick aufs Leben. Glücksfaktoren unserer westlichen, industriellen Welt wirken im Kontrast seltsam. Ein optimiertes Leben in Perfektion und ohne Schwierigkeiten? Macht das ein gutes Leben aus?
„Das Lied der Arktis“ ist ein Buch für Verstand und Gefühl. Bérengère Cournut forschte 7 Jahre lang zur Kultur der Inuit, bevor sie diesen Roman im Stil des Nature Writing schrieb. Das Buch ist von diesem Wissen durchdrungen. Die Geschichte ist authentisch und liebevoll erzählt. Aus dem Französischen übersetzt von Stefanie Jacobs.
Hinten im Buch gibt es einen Fototeil. Für die Datierung der Bilder kann ich meine westlichen Maßstäbe wieder nicht anwenden. Die Bilder gehören in ein unbestimmtes Gestern. Im Heute und Morgen ist diese Welt vom Klimawandel bedroht.
Um dir ein optimales Erlebnis zu bieten, verwenden wir Technologien wie Cookies, um Geräteinformationen zu speichern und/oder darauf zuzugreifen. Wenn du diesen Technologien zustimmst, können wir Daten wie das Surfverhalten oder eindeutige IDs auf dieser Website verarbeiten. Wenn du deine Zustimmung nicht erteilst oder zurückziehst, können bestimmte Merkmale und Funktionen beeinträchtigt werden.
Funktional
Immer aktiv
Die technische Speicherung oder der Zugang ist unbedingt erforderlich für den rechtmäßigen Zweck, die Nutzung eines bestimmten Dienstes zu ermöglichen, der vom Teilnehmer oder Nutzer ausdrücklich gewünscht wird, oder für den alleinigen Zweck, die Übertragung einer Nachricht über ein elektronisches Kommunikationsnetz durchzuführen.
Vorlieben
Die technische Speicherung oder der Zugriff ist für den rechtmäßigen Zweck der Speicherung von Präferenzen erforderlich, die nicht vom Abonnenten oder Benutzer angefordert wurden.
Statistiken
Die technische Speicherung oder der Zugriff, der ausschließlich zu statistischen Zwecken erfolgt.Die technische Speicherung oder der Zugriff, der ausschließlich zu anonymen statistischen Zwecken verwendet wird. Ohne eine Vorladung, die freiwillige Zustimmung deines Internetdienstanbieters oder zusätzliche Aufzeichnungen von Dritten können die zu diesem Zweck gespeicherten oder abgerufenen Informationen allein in der Regel nicht dazu verwendet werden, dich zu identifizieren.
Marketing
Die technische Speicherung oder der Zugriff ist erforderlich, um Nutzerprofile zu erstellen, um Werbung zu versenden oder um den Nutzer auf einer Website oder über mehrere Websites hinweg zu ähnlichen Marketingzwecken zu verfolgen.