Kategorie: Roman

Rezension: Metropol von Eugen Ruge

Buchcover Roman Metropol von Eugen Ruge

Metropol von Eugen Ruge – was für ein Buch! Von der Geschichte bin ich erschüttert und beeindruckt von dieser schriftstellerischen Leistung. 

Ruge verarbeitet die Geschichte seiner Großmutter literarisch. Die Handlung spielt 1936-1937 in stalinistischen Moskau. Terror versetzt die Bevölkerung in Schrecken. Täglich gibt es Verhaftungen, Todesurteile und zahllose Menschen werden in die Gulags (Arbeitslager) verdammt. Es kann jede:n treffen – für eine Verurteilung braucht es keinen Grund. Neben diesem Terror ist die propagandistische Fassade immer präsent: rasanter technologischer Fortschritt, der Bau der Metro, Häuser, die versetzt werden und der erste Mensch im Weltraum. Doch im Alltag überall Mangel und Armut. 

Charlotte wird mit ihrem Mann vom sowjetischen Geheimdienst suspendiert und im Hotel Metropol einquartiert. Dort harren sie aus. Immer das Gefängnis vor Augen. Wird es für sie gut ausgehen? Eine erschütternde Geschichte basierend auf historischen Quellen. Ruge gelingt es Daten und ihm bekannte historische Fragmente zu einer psychologisch authentischen Erzählung zu verweben.

Wir verfolgen die Geschichte aus der Perspektive von drei Protagonist:innen: Charlotte, Hilde, Ulrich. Wir begleiten sie und erfahren alles aus ihrer Sicht in Rückblenden und zeitlich versetzt. Alle drei Zweifeln trotz allem nicht am Sozialismus und vertrauen Stalin. Ihre persönlichen Wahrheiten passen sich an die Entwicklungen an.

Einfach wow! Nun steht auch die Famliensaga „In Zeiten des abnehmenden Lichts“ von Eugen Ruge auf meiner Leseliste.


Infos zum Buch

Ich habe diese Ausgabe gelesen:

  • Titel: Metropol
  • Autor: Eugen Ruge
  • Verlag: Rowohlt
  • 429 Seiten
  • 4. Auflage: 2019
  • Gebundene Ausgabe: 24 Euro
  • ISBN: 978-3498001230

2021 als Taschenbuch erschienen:

  • Taschenbuch-Ausgabe: 14 Euro
  • Verlag: Rowohlt Taschenbuch
  • ISBN: ‎978-3499000973
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Papierklavier von Elisabeth Steinkellner [Rezension]

Gerade habe ich dieses Buch gesnackt: „Papierklavier“ von Elisabeth Steinkellner. Ein Jugendbuch, das schon einige Preise abräumte. Einen Preis jedoch nicht. Das ist eine unverständliche Geschichte, die dem Buch immerhin mehr Bekanntheit verschaffte. Dazu gleich mehr.

Falls ihr Teenager beschenken möchtet, ist dieses Buch perfekt. Eine positive (aber nicht geschönte) Coming-of-Age-Geschichte in der Form eines fiktionalen Tagebuchs. Wunderschön illustriert von Anna Gusella.

Inhalt

Maia ist 16 und hat’s nicht leicht: sie lebt mit ihren beiden kleinen Schwestern und ihrer alleinerziehenden Mutter in einer Zwei-Zimmerwohnung. Gerade trauern sie um ihre geliebte Zieh-Oma.

Maias Mama ist immer sehr müde. Denn sie arbeitet viel, um über die Runden zu kommen. Auch Maia jobbt nach der Arbeit in einem Saftladen, um ihrer Familie zu helfen und sich selbst manchmal eine Kleinigkeit zu gönnen. Das ist aber nur selten der Fall, denn nun schiebt sie sogar extra Schichten, um ihrer talentierten Schwester Klavierunterricht zu ermöglichen. Trotz großer Herausforderungen hat sie eine liebevolle Familie. Maia wünscht sich nur, dass ihre Mutter weniger arbeiten müsste und mehr Zeit für die Familie hätte. Zeit haben Maias beste Freund:innen Alex und Carla, auf die sie sich verlassen kann. Zusammen geht’s auf Partys, lachen, lieben, das Leben feiern.

Maia vertraut sich ihrem Tagebuch an. Sie schreibt und zeichnet über schöne und traurige Erlebnisse, ihre Zweifel und klugen Alltags-Analysen. Wir lesen also ein illustriertes Tagebuch und verfolgen die Geschichte in der Ich-Perspektive.

Maia ist eine liebenswerte und selbstbewusste Romanheldin. Sie ist eine gute Freundin, eine fürsorgliche Schwester und eine verantwortungsbewusste Tochter – und sie kann richtig gut zeichnen. Sie hat dennoch ihre Selbstzweifel und kämpft manchmal mit den Kilos. Im eigenen Körper fühlt sie sich noch etwas unwohl und fremd – dieses Gefühl eines Teenagers ist sicherlich ein zeitloses Thema und unabhängig von Maßen und Normen. Maia entdeckt ihre Talente und Stärken. Sie ist kreativ und witzig – darauf ist sie stolz. Im Laufe der Zeit wächst in ihr der Wunsch Grafikerin zu werden. Und vielleicht verliebt sie sich zum ersten Mal.

Im Alltag begegnet Maia vielen Vorurteilen. Sei es selbst als übergewichtige Frau oder aufgrund von Armut. Ihre Familie wird stigmatisiert, denn Mitmenschen verurteilen ihre alleinerziehende Mutter, da jede Tochter einen anderen Vater hat. Niemand fragt, nach der Geschichte der Familie. Ihre transsexuelle Freundin Carla erlebt häufg Diskriminierung. Doch sie alle lassen sich nicht unterkriegen und holen sich selbstbewusst, was sie sich vom Leben wünschen.

Illustrationen

Das Buch hat mich nicht nur mit der einfühlsamen Geschichte überzeugt, sondern auch mit den zweifarbigen Illustrationen. Bild und Text sind miteinander verwoben. Meist illustriert die Grafik den Text, doch manchmal ergänzt der Text wiederum das Bild. Beides ist perfekt aufeinander abgestimmt. Ich frage mich, gab es zuerst den Text? Oder wurde Bild und Text parallel kreiert? Die Gestaltungsform vermittelt den Eindruck eines richtigen Tagebuchs. Auf der Website der Illustratorin gibt’s einen Blick ins Buch.

Preise

Das Jugendbuch hat 2020/21 verschiedene Preise abgeräumt (Preis-Liste auf der Verlags-Website). Von einer Fachjury wurde das Buch für den Katholischen Kinder- und Jugendbuch-Preis 2021 vorgeschlagen. Die Bischöfe lehnten die Nomierung ab. Die Jury blieb allerdings bei ihrer Wahl. Daher wurde der Preis im letzten Jahr nicht verliehen. Begründung des Ständigen Rates: Das Buch entspräche nicht den Kritieren des Preises. Eine genauere Erklärung wurde nicht abgegeben. Man kann nur spekulieren. Es folgte neben öffentlicher Kritik auch ein offener Brief von 222 Kinderbuch-Autoren und -Illustratoren. Das Buch bildet die Lebensrealität junger Erwachsener ab: Tod, Armut, Sex und queere Lebensentwürfe. Die Eminzenen fanden’s nicht preisverdächtig. Aber viele Käufer:innen lesenswert! Inzwischen ist die 5. Auflage erhältlich.

Fazit

Die Geschichte ist viel zu schnell gelesen. Sie ist dicht erzählt und darin steckt eine große thematische Bandbreite. Die Charaktere sind klug und selbstbewusst. Ich lese darin Liebe, Freundschaft, Loyalität, Zuversicht und Mut. Auch den unschönen Seiten des Lebens Romane mit selbstwirksamer Botschaft zu widmen, finde ich sehr wichtig. Als Geschenk für Jugendliche ab 15 Jahre geeignet. Mein Fazit: Unbedingt lesen – auch Erwachsene!

Infos zum Buch

  • Titel: Papierklavier
  • Autorin: Elisabeth Steinkellner
  • Illustratorin: Anna Gusella
  • 140 Seiten
  • Verlag: Beltz
  • 5. deutsche Auflage: 2021
  • Hardcover: 14,95 Euro
  • ISBN: 978-3-407-75579-7

Hier geht’s zur Leseprobe!

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Goldie Goldbloom: Eine ganze Welt [Rezension]

Surie ist 57 und schwanger. Damit hat sie nicht mehr gerechnet. Sie hat Angst dem Ansehen der Familie zu schaden. Und sie trauert noch, um ihren Sohn. Sie steckt in einem Dilemma. Ihre Lösung: Die Schwangerschaft muss geheim bleiben. Auch vor ihr selbst. Die 10-fache Mutter ignoriert lange alle Zeichen. Ihre Welt ist aus dem Gleichgewicht. Schließlich ist sie seit 40 Jahren glücklich verheiratet. Doch nun fehlen dem Paar die Worte. Surie lebt mit ihrer Familie in einer chassidischen Gemeinde in Brooklyn. Nun beginnt sie sich zu emanzipieren.

Mir hat der einfühlsame Erzählstil von Goldbloom und die differenzierten Charakterzeichnungen ihrer Figuren gefallen. Sie erzählt die Geschichte einer Frau, die einen Weg finden möchte ihre Gemeinschaft zu gestalten. Surie denkt nicht darüber nach ihr Leben zu verlassen, sondern möchte es positiv verändern – auch wenn das nicht einfach ist.

Für den Roman „Eine ganze Welt“ bekam Goldie Goldbloom den Jewish Fiction Award 2020. Die Geschichte war für mich besonders vor dem Hintergrund sehr spannend, da ich in verschiedenen Artikeln las, dass die Autorin selbst als queere Chassidin lebt und sich in der LBGT-Bewegung engagiert.

Das Buch habe ich in Ergänzung zu „Unorthodox“ gelesen. Der Plot von „Eine ganze Welt“ ist bewegend und es wird nichts beschönigt. Themen wie Suizid, Missbrauch und Homophobie kommen vor. Der Roman wirkt noch eine Weile nach. Eine große Empfehlung von mir.


Infos zum Buch

  • Autor: Goldie Goldbloom
  • Titel: Eine ganze Welt
  • Übersetzung von Anette Grube
  • 1. deutsche Auflage: 2021
  • Verlag: Hoffmann und Campe
  • 288 Seiten
  • Hardcover: 24 Euro
  • ISBN: 978-3-455-00901-9
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Mutter werden – ja oder nein? Nie, nie, nie… heißt es in Linn Strømsborgs Roman

Möchte ich Mutter sein? Wie fühlt es sich an, wenn die biologische Uhr tickt? Oder sind es nur die Erwartungen von Familie und Freund:innen, die ich fühle? Möchte ich Mutter sein, weil scheinbar alle ein Kind bekommen? Bin ich erst eine Frau, wenn ich Mutter bin? Werde ich es später bereuen, wenn ich kein Kind bekomme? Meine Partner:in möchte eine Familie. Wie sieht unsere Zukunft aus? Könnte ich eine gute Mutter sein? Diesen inneren Monolog kennen viele. Er geht noch viel weiter.

Die namenlose Protagonistin in Linn Strømsborgs Roman „Nie, nie, nie“ will keine Mutter werden – niemals. Diese Prämisse für einen Roman hat mich neugierig gemacht. Die Autorin widmet dem Für- und Wider, um das komplexe Thema Mutterschaft ihren Roman und zeigt vielfältige Frauenbilder und Lebensmodelle.

Wir folgen der Ich-Erzählerin in ihren Gedankengängen – erfahren, weshalb sie keine Kinder haben möchte und lesen welchen Erwartungen und Bewertungen sie daher von Fremden, Familie, Partnern und Freund:innen ausgesetzt ist und wie sie sich dazu positioniert. Neben der differenzierten Darstellung der Gründe für ein Leben ohne Kinder, haben mir am besten die Beschreibungen der Großmütter und Mütter in ihrem Umfeld gefallen, die ihre Rolle jeweils recht unterschiedlich leb(t)en. Dynamik kommt in die Handlung als die beste Freundin schwanger wird und sich in ihre neue Rolle als Mutter einfindet.

Von den Protagonist:innen war ich oft genervt, was aber reizvoll war. Auch wenn mir die Handlungen der Figuren nicht immer sympathisch waren, sind sie doch nüchtern und schlüssig charakterisiert. Als Leserin konnte ich zu den Figuren eine Beziehung aufbauen und war ganz in die Geschichte versunken.

Auch wenn mir der Roman insgesamt gut gefallen hat, zum Schluss hat er mich dennoch etwas ratlos zurückgelassen. Es hat für viele Romane seine Berechtigung das Ende mit einem Fragezeichen zu beenden. Schließlich ist Literatur nicht dafür da, uns die Welt abschließend zu erklären. Doch hier empfinde ich das Ende als unpassend, sofern es im Roman darum gehen sollte die bewusste Entscheidung gegen Kinder als einen von vielen gleichwertigen Lebensentwürfen zu zeigen. So habe ich die Geschichte jedenfalls interpretiert und daher hätte ich mir das letzte Kapitel aus der Perspektive des Ex-Partners gerne gespart.

Ich finde den Roman wichtig, weil er dem Thema gewollte Kinderlosigkeit nuanciert begegnet. Denn es ist – wie so oft – nicht einfach. Strømsberg zeigt, dass diese Entscheidung ein Prozess ist und ein Ringen mit sich selbst sein kann.


Infos zum Buch

Ich habe diese Ausgabe gelesen:

  • Autorin: Linn Strømsberg
  • Titel: Nie, nie, nie
  • Erste norwegische Auflage: 2020
  • 2. deutsche Auflage: 2021
  • Übersetzung von Stefan Pluschkat
  • 256 Seiten
  • Verlag: Dumont
  • Hardcover: 20 Euro
  • ISBN: 978-3-8321-8133-8
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Nature Writing: Lieblingsbuch 2021

Das Lied der Arktis von Bérengère Cournut

„Das Lied der Arktis“ ist mein Lektüre-Liebling 2021. Es beginnt damit wie die junge Uqsuralik in der Kälte ums Überleben kämpft, als sie von ihrer Familie getrennt wird.

Selten hat mich in letzter Zeit ein Roman so sehr in den Bann gezogen. Ich war als Leserin dabei – an einem Ort mit Jahreszeiten, aber ohne Jahreszahl – und habe die Schönheit der Natur und ihre Grausamkeit gesehen. Ich durfte die Kultur der Inuit kennenlernen: ihre nomadische Lebensweise, ihren Glauben, ihre Musik, ihre Poesie.

Der Roman zeigt einen anderen Blick aufs Leben. Glücksfaktoren unserer westlichen, industriellen Welt wirken im Kontrast seltsam. Ein optimiertes Leben in Perfektion und ohne Schwierigkeiten? Macht das ein gutes Leben aus?

„Das Lied der Arktis“ ist ein Buch für Verstand und Gefühl. Bérengère Cournut forschte 7 Jahre lang zur Kultur der Inuit, bevor sie diesen Roman im Stil des Nature Writing schrieb. Das Buch ist von diesem Wissen durchdrungen. Die Geschichte ist authentisch und liebevoll erzählt. Aus dem Französischen übersetzt von Stefanie Jacobs.

Hinten im Buch gibt es einen Fototeil. Für die Datierung der Bilder kann ich meine westlichen Maßstäbe wieder nicht anwenden. Die Bilder gehören in ein unbestimmtes Gestern. Im Heute und Morgen ist diese Welt vom Klimawandel bedroht.


Infos zum Buch

Ich habe diese Ausgabe gelesen:

  • Autorin: Bérengère Cournut
  • Titel: Lied der Arktis
  • Erste französische Auflage: 2019
  • Deutsche Auflage: 2020
  • Übersetzung von Stefanie Jacobs
  • 254 Seiten
  • Verlag: Ullstein
  • Hardcover: 23 Euro
  • ISBN: 978-3-550-20097-7
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Buchbesprechung: Die Mitternachtsbibliothek von Matt Haig

Buchbesprechung Die Mitternachtsbibliothek

Was wäre wenn… Eine Entwicklungsgeschichte im Multiversum

Diesmal habe ich mit Literaturbloggerin Jule über den Bestseller „Die Mitternachtsbibliothek“ von Matt Haig gesprochen. In unserer Buchbesprechung geht es darum, wie wir Entscheidungen fällen und ob wir etwas bereuen. Wir sprechen über den Umgang mit Depressionen, Existenzphilosophie und die beste aller Welten.

Wir sprechen über das ganze Buch. Falls Ihr den Roman noch lesen möchtet, überlegt Euch also, ob Ihr das Gespräch lesen mögt.

Wer liest?

Jule studiert Philosophie. Das ist ein praktischer Zufall. Schließlich ist die Romanheldin aus „Die Mitternachtsbibliothek“ ebenfalls Philosophin mit einer Vorliebe für existenzialistische Zitate. Jule schätze ich für ihre nachdenklichen und ehrlichen Texte. Auf ihrem Blog gibt es Buchtipps zu philosophischen Themen und Gegenwartsliteratur. (Hier geht’s zur Rezension auf Jules Blog.)

Zusammenfassung des Romans

Die Botschaft des Romans ist lebensbejahend. Doch beginnt er sehr dramatisch. Protagonistin Nora ist schwer depressiv und sie beschließt zu sterben. Plötzlich findet sie sich in der Mitternachtsbibliothek wieder. Einem Ort zwischen Leben und Tod, an dem sie dem Multiversum begegnet. Dort sind all die Leben in Büchern gesammelt, die sie nicht geführt hat. Nun bekommt Nora die Gelegenheit, diese Leben auszuprobieren. „Was wäre wenn“-Szenarien sind für viele von uns nette Gedankenspiele. Doch die depressive Nora bereut ihre wichtigsten Entscheidungen und sieht ihr Leben als Ausdruck verpasster Chancen. In der Mitternachtsbibliothek darf sie sich nun ein Leben wählen, das zu ihr passt. Wir Leser:innen begleiten sie auf dieser Suche. Sie ist mal Rockstar, Olympia-Schwimmerin, Gletscherforscherin und vieles mehr. Für welches Leben sie sich entscheidet, müsst Ihr selbst herausfinden. (Meine Rezension zum Buch gibt es hier.)


Gefällt’s?

Wiebke: Du hattest das Buch schon Anfang des Jahres entdeckt. Wie bist Du auf diesen Roman aufmerksam geworden?

Jule: Ich habe das Buch bei Instagram gesehen. Mich hat die Buchvorstellung von Anne von Fuxbooks neugierig gemacht.

Wiebke: Inzwischen ist auch die deutsche Ausgabe ein Bestseller. Mir haben Freundinnen das Buch empfohlen. Hat Dir das Buch gefallen?

Jule: Ich erinnere mich, dass der Roman einmal als Wohlfühl-Buch beschrieben wurde. Dieses Genre lese ich eher selten, weil ich nicht zum „Wohlfühlen“ lese. Die Geschichte war aber leicht und gut zu lesen und die Quintessenz finde ich auch wichtig. Aber ich hatte hin und wieder meine Schwierigkeiten mit dem Roman. Einiges war mir zu einfach erzählt.

Wiebke: Eine Geschichte mit wichtiger Botschaft, aber mit ungenutztem Potential. Also ein interessanter Aufhänger für unser Gespräch. Dann sprechen wir doch über die Stärken und die Schwächen des Romans.

Die Sache mit der Depression

Wiebke: Nora will sich das Leben nehmen, das ist ein harter Einstieg für ein Wohlfühl-Buch. Der Suizidversuch ist der Ausgangspunkt für die Geschichte. Ich hatte schon in meiner Rezension geschrieben, dass ich das Buch wie ein Märchen gelesen habe. Ich denke die Krankheit und der Weg aus der Depression ist zu einfach beschrieben. Wenn jemand diese Geschichte liest und noch wenig Kenntnisse über die Krankheit hat, verzerrt es den Blick darauf und bestätigt vielleicht vorhandene Vorurteile. Man sollte das Buch nicht mit dem Anspruch lesen, dabei zu erfahren wie die Perspektive von Erkrankten ist oder wie die Genesung gelingt. Ich wünsche mir ein fundiertes Vorwort für eine Neuauflage, damit die Geschichte nicht im leeren Raum stehen bleibt. Aber aus der Perspektive eines Märchens war es für mich leicht und positiv geschrieben und eine schöne Wochenend-Lektüre.

Jule: Bis ich Deine Rezension gelesen habe, ist mir dieser Aspekt gar nicht aufgefallen. Aber ich stimme Dir zu. Ich habe mich gefragt, weshalb ich das nicht so kritisch gesehen habe. Es liegt wohl daran, dass die Geschichte das Thema romantisiert und weit von der realistischen Beschreibung einer Depression entfernt ist. Noras Wahrnehmung hat mich eher an eine generelle Unzufriedenheit im Leben erinnert. Sie hatte aber nichts mit den Erfahrungen zu tun, die ich persönlich im Kontakt mit erkrankten Mitmenschen gemacht habe. Daher hatte ich mich auf andere Aspekte der Geschichte fokussiert.

Wiebke: Während der Lektüre ging es mir genauso. Mir kam der Gedankengang erst im Nachhinein, als ich mich für die Rezension mit meinem Leseeindruck auseinandergesetzt und mich mit anderen Leser:innen ausgetauscht habe. Der Suizidversuch wird nicht konkret beschrieben. Nora landet recht unvermittelt in der Mitternachtsbibliothek.

Jule: Es ist so, als würde sie sich schlafen legen und wacht dort wieder auf.

Wiebke: Die Themen Depression und Suizid sind im Roman omnipräsent, da sie die Grundlage für die Geschichte bilden. Gleichzeitig kann man das Thema überlesen – so wie Du es beschreibst. Das ist doch interessant. Weshalb ist das so? Der Autor musste eine außergewöhnliche Möglichkeit kreieren, in der Nora den Paralleluniversen begegnet. Beim Kaffeekochen passiert so etwas bestimmt nicht. Die Nahtod-Erfahrung hat er daher als Ausgangspunkt verwendet, um ihre Entwicklung anzustoßen. Wenn der Suizidversuch dramatisch geschildert worden wäre, hätte ich das Buch weggelegt. Da es aber weichgespült war, konnte ich mich auf die Geschichte einlassen. Denn hier in der Mitternachtsbibliothek werde ich als Leserin mit den wichtigen Fragen konfrontiert: Wie beeinflussen meine Entscheidungen mein Leben? Wie wurde ich zur Person, die ich heute bin? Wie gehe ich mit meinen Entscheidungen um? Wie würdest Du den Hauptgedanken der Geschichte beschreiben?

Für mich geht es darum, dass man das eigene Leben in der Hand hat.

Jule

Jule: Für mich geht es darum, dass man das eigene Leben in der Hand hat. Man sollte daher Entscheidungen im Vorhinein abwägen und sich mögliche Handlungen und deren Konsequenzen überlegen. Selbst wenn schwierige Situationen auf mich zukommen, entscheide ich mich am Ende doch selbst für das, was passiert – und das muss ich akzeptieren. Zum Schluss ist die Geschichte vielleicht auch eine Aufforderung, manches einfach etwas leichter zu nehmen.

Wiebke: Das habe ich darin auch gesehen. Ein Appell sich zusammenzureißen. Ich denke, damit kann man sich ruhig konfrontieren. Aber eignet sich das als Rat für Depressive?

Jule: Gesunden Menschen kann es bestimmt helfen wachgerüttelt zu werden. Da sich negative Denkmuster mit der Zeit festigen, ist es vielleicht eine Technik, die Depressiven in Teilen ebenfalls helfen könnte, um eine andere Perspektive einzunehmen. Aber das ist selbstverständlich nicht die Lösung des Problems. Manchmal sind Situationen nun einmal schlimm und sie verschwinden nicht einfach mit dem Motto: „Ich nehme es nicht so schwer.“

Wiebke: Der Autor hat schon mehrere Bücher über das Thema Depression geschrieben und war selbst betroffen. Matt Haig hat also Expertise. Der Roman spricht international viele Menschen an. Ich hatte mit Rike beim letzten Buchgespräch zu „Das Café am Rande der Welt“ die Vermutung aufgestellt, dass das Buch leicht daherkommt, damit sich viele Leser:innen mit diesen Themen beschäftigen.

Existenzphilosophie

Jule: Ich finde, man hätte die Geschichte schon komplexer erzählen können, auch wenn man ein breites Publikum ansprechen möchte. Die Geschichte ist eigentlich darauf angelegt. Am Anfang erfahren wir, dass Nora Philosophie mit Schwerpunkt Existenzphilosophie studiert hat. Das hat mich gleich begeistert. Aber ihre Handlungen und ihre Gespräche hatten damit wenig zu tun. Wenn man diesen Hintergrund hat, würde man doch nicht so handeln. Das hat beides für mich nicht zusammengepasst. Nora benimmt sich manchchmal kindisch und das hat mich ratlos gemacht. Nur weil der Kater stirbt und man am gleichen Tag den Job verliert, beschließt man doch nicht, dass das Leben keinen Sinn mehr hat. Auch ihre Mitmenschen waren alle nett zu ihr.

Wiebke: Sie konnte das nicht erkennen, weil sie depressiv ist.

Jule: Vielleicht. Aber das liegt bestimmt auch am Stil. Ich finde beispielsweise, dass die Figuren viel zu freundlich gezeichnet sind. Das waren keine authentischen Dialoge.

Wiebke: Die Charakterisierungen sind ziemlich stereotyp und Noras Gedanken über Personen und Situationen sind nicht so differenziert, wie man sie von einer Philosophin vermuten würde. Da gebe ich Dir recht.

Jule: Es werden Zitate von Existenzphilosophen eingeflochten, die mir alle gefallen haben. Ich würde jedoch nicht behaupten, dass man davon verstanden hätte, wie das Leben gelingt. Das ist schon komplexer. Ich hatte letztes Semester ein Seminar zum Thema Existenzphilosophie. Es ging um Fragen wie „Was ist Existenz?“, „Was ist Freiheit?“. Dadurch verändert man die eigenen Perspektiven und Handlungen. Das vermute ich erst recht, wenn man ein ganzes Studium zu diesem Thema abschließt.

Wiebke: Ist man denn als Philosophin vor Depressionen geschützt? Ich bin jetzt Advocatus Diaboli: Wenn man sich mit existenzialistischen Schriften beschäftigt, könnte das doch depressiv machen.

Jule: Wenn man in den Nihilismus abdriftet, dann auf jeden Fall.

Wiebke: Um bei der Existenzphilosophie zu bleiben: es ist eine große Verantwortung, wenn man sich jeden Tag aufs Neue beweisen muss. Man hat keinen Kredit. Wenn man einen schlechten Tag hat, denkt man vielleicht einfach: „Ich bleibe besser liegen, dann kann ich nichts falsch machen.“

Jule: Ich glaube, das geht uns doch allen manchmal so. Wie hast Du die Rolle der Philosophie im Buch gelesen?

Wiebke: Mich hat schon irritiert, dass sie entgegen ihrer eigenen Philosophie handelt. Ich finde es gut, dass Du auf diese Diskrepanz hingewiesen hast. Aber mich hat es nicht so stark gestört. Ich habe mich viel eher gefragt, wer damit erreicht werden soll. Es wird doch viel vorausgesetzt, oder? Denn mich würde interessieren, wie die Stellen gelesen werden, wenn für jemanden Existenzphilosophie Neuland ist. Wie werden die Zitate interpretiert, wenn man ihren Kontext nicht kennt?

Jule: Meinst du, dass die Zitate als Beweis für Noras Kenntnisse vom Autor gebraucht werden? Es stellt sich die Frage, ob alle Leser:innen Sartre oder Camus kennen.

Wiebke: Das zuallererst. Falls die Leser:innen sie nicht kennen, wissen sie zwangsläufig nicht, wofür die Zitate stehen. Sind die Zitate so repräsentativ gewählt, dass man sie ohne den Kontext verstehen kann? Das ist ein generelles Problem mit Zitaten.

Warum bereuen wir etwas?

Wiebke: Mich hat das Thema der Reue sehr angesprochen. Ich habe mich gefragt, ob ich etwas bereue. Auch wenn nicht alles super war, würde ich sagen: nein, ich bereue nichts. Es ist alles Teil meines Lebens und meiner Entwicklung. Wie würdest Du das beantworten?

Jule: Es gibt eine Sache, die dem Gefühl der Reue nahekommt. Aber prinzipiell würde ich sagen: nein.

Wiebke: Ich hatte bei Instagram eine kleine Umfrage gestartet. Das ist selbstverständlich nicht repräsentativ. Aber das Ergebnis war dennoch spannend, da es sehr gemischt war. Die Hälfte hat angegeben etwas zu bereuen. Scheinbar beschäftigt das Thema doch einige Menschen und nicht alle antworten darauf, wie wir beide gerade.

Ich denke, es liegt unter anderem an der Distanz, die man zu einem Thema noch nicht gefunden hat.

Jule

Jule: Ich denke, es liegt unter anderem an der Distanz, die man zu einem Thema noch nicht gefunden hat. Vielleicht liest man diesen Roman gerade aus dem Grund, weil man aktuell etwas bereut und noch nicht damit abgeschlossen hat.

Wiebke: Nicht alles, was wir bereuen, hätten wir auch wirklich verbessern können. Manchmal fühlen wir uns verantwortlich für Dinge, die wir nicht in der Hand haben. Hierzu habe ich mir ein Zitat der Bibliothekarin Mrs Elm notiert. Nora hat in der Passage gerade realisiert, dass ihr Kater ohnehin an jenem Tag gestorben wäre, gleichgültig ob sie ihn vor die Tür gelassen hätte oder nicht.

„Siehst du? Manche Reuegefühle basieren überhaupt nicht auf Fakten. Manchmal sind Reuegefühle nur…“ Mrs Elm suchte nach dem richtigen Begriff und fand ihn schließlich, „…ein Haufen Scheiße.“

Die Mitternachtsbibliothek, S. 82.

Das Zitat ist simpel. Aber es zeigt zwei Seiten der Reue. Sie kann sinnvoll sein. Schließlich können wir fatale Fehler begangen haben und damit müssen wir einen Umgang finden. Manchmal steht uns das Reuegefühl aber einfach unnötig im Weg und hält uns in unseren Gedanken gefangen.

Wir können nicht die Entscheidung und deren Konsequenzen ändern, sondern nur unsere Einstellung dazu.

Wiebke

Am Anfang bereut Nora ihre verpassten Chancen. Sie sieht sie als Fehlentscheidungen. Später ändert sie ihre Einstellung und schließt Frieden damit. Wir können nicht die Entscheidung und deren Konsequenzen ändern, sondern nur unsere Einstellung dazu. Ich selbst denke, dass meine Entscheidungen, in dem Moment einen guten Grund hatten – auch wenn das nicht zwangsläufig zu einem guten Ergebnis geführt hat.

Jule: In dem Moment hast du nach bestem Wissen und Gewissen entschieden. Das erinnert mich an die Lehre von Leibniz, die mich im Philosophie-Studium sehr berührt hat. Es geht um die Theodizee – also um den Bereich in der Philosophie, der sich mit der Gerechtigkeit Gottes beschäftigt und Antwort auf die Frage sucht, weshalb es – sofern es einen allmächtigen und guten Gott gibt – dennoch Böses auf der Welt gibt. Bei Leibniz heißt es, dass wir in der besten aller möglichen Welten leben und dass das Böse darin daher aus einem Grund existiert. Daran musste ich bei der Lektüre dieses Buches denken, schließlich hat jedes Leben, das Nora wählt, immer einen Haken. Ich denke, das ist für mich auch eine Kernaussage des Buchs: So wie es gekommen ist, hat es schon seine Berechtigung. Schließlich konntest Du nicht anders entscheiden, denn Du wusstest damals nicht, was Du jetzt weißt.


Infos zum Buch

Wir haben diese Ausgabe gelesen:

  • Autor: Matt Haig
  • Titel: Die Mitternachtsbibliothek
  • Erste deutsche Auflage: Februar 2021
  • Übersetzt von Sabine Hübner
  • Verlag: Droemer Knauer
  • 320 Seiten
  • Gebundene Ausgabe: 20 Euro
  • ISBN: 978-3-426-28256-4

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Rezension: Die Mitternachtsbibliothek von Matt Haig

Rezension Die Mitternachtsbibliothek von Matt Haig

Vorschau fürs nächste Buchgespräch

„Die Mitternachtsbibliothek“ von Matt Haig habe ich wie ein Märchen gelesen. Der Roman ist leicht geschrieben und hat mir Mut gemacht. Wenn Euch auch manchmal die Melancholie packt, lest gerne dieses Buch.

Die englische Original-Ausgabe erschien im August 2020. Auf Deutsch ist der Roman kurz darauf im Februar 2021 veröffentlicht worden und nicht nur bei uns ist das Buch ein Bestseller. Ich kann verstehen, dass die Geschichte international ihre Fangemeinde hat. Scheinbar hat Matt Haig inmitten dieser turbulenten Zeiten einen Nerv bei seinen Leser:innen getroffen.

Dennoch muss ich eine Trigger-Warnung aussprechen, denn ein schwieriges Thema wird romantisiert. Im Buch geht es um einen Suizid-Versuch. Falls Euch das Thema angeht, greift besser zu einer anderen Lektüre. Es gibt ein gutes Ende, das möchte ich noch vorausschicken.

Zum Inhalt

Es ist ein trauriger Tag für Nora. Katze tot, Job weg und überall ist sie mit verpassten Chancen und vermeintlichen Fehlentscheidungen ihres Lebens konfrontiert. So kann sie nicht mehr weitermachen und beschließt zu sterben. Dort beginnt die Geschichte: Sie landet in der Mitternachtsbibliothek, in der ihre unendlichen möglichen Leben in Büchern versammelt sind. Es sind Lebensentwürfe, die sie ausprobieren darf, um schließlich eine passende Version zu finden.

Meine Gedanken zum Buch

Matt Haig stellt die Theorie des Multiversums in den Mittelpunkt. Wir müssen keine Physiker:innen sein, um der Story folgen zu können – mit Was-wäre-wenn-Gedanken haben wir uns alle schon beschäftigt. Die Nahtod-Erfahrung von Nora wird als Motor genutzt, um eine Situation zu kreieren, in der sie den Paralleluniversen begegnet – aber hier wird es problematisch.

Für eine Neuauflage wünsche ich mir ein Nachwort, in dem auf Noras Krankheit eingegangen wird. Denn eine Person, die hin und wieder etwas bereut, beschließt nicht zu sterben. Das wird im Buch nicht thematisiert. Auch das Leben mit einer schweren Depression und der Genesungsprozess nach einem Suizid-Versuch wird zu einfach beschrieben.

Wenn das Buch von Menschen gelesen wird, die bisher keine Berührungspunkte mit dem Thema Depression hatten, kann die Geschichte einen falschen Eindruck vermitteln. Das wird Betroffenen nicht gerecht. Schließlich hören sie leider häufig genug, dass es an der Einstellung liegt. Dieser Roman könnte diesen Eindruck fälschlicherweise untermauern und sollte daher nicht ohne Kontext stehen bleiben – daher mein Versuch einer Fußnote.

Ich mag das Buch und es gäbe noch mehr zu sagen. Mehr dazu demnächst im Gespräch mit Literarturbloggerin Jule. Wenn ihr ein bisschen über Jule erfahren möchtet. Hier geht’s zu ihrem Blog.


Infos zum Buch

Wir lesen diese Ausgabe:

  • Autor: Matt Haig
  • Titel: Die Mitternachtsbibliothek
  • Erste deutsche Auflage: Februar 2021
  • Übersetzt von Sabine Hübner
  • Verlag: Droemer Knauer
  • 320 Seiten
  • Gebundene Ausgabe: 20 Euro
  • ISBN: 978-3-426-28256-4
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Buchbesprechung: Das Café am Rande der Welt von John Strelecky

Bücherstapel in der Mitte liegt der gelbe Buchrücken von Cafe am Rande der Welt

Ein erfüllten Leben. Wie geht das?

In diesem Gespräch nehmen Rike und ich einen internationalen Bestseller genauer unter die Lupe. Es geht um das Buch „Das Café am Rande der Welt“ von John Strelecky. Wir sprechen über nichts Geringeres als eine „Erzählung über den Sinn des Lebens“, das verspricht zumindest der Untertitel des Buches.

Wer liest?

Rike ist zufällig zu einer Expertin für „Das Café am Rande der Welt“ geworden. Sie hat das Buch inzwischen dreimal gelesen: einmal als es ihr gut ging, ein zweites Mal als es ihr weniger gut ging und schließlich zur Vorbereitung auf dieses Gespräch. Wenn ich an Rike denke, denke ich an zwei Worte mit TÄT. Eines davon ist Integrität, das andere ist Kreativität. Über Kreativität habe ich beim letzten Gespräch schon mit Stephanie gesprochen. Hier gibt’s den Beitrag für Kreative. Heute geht es aber um Sinnsuche.

Rike ist eine Frau mit Haltung. Wenn mich eine Situation irritiert, hilft mir ein Gespräch mit ihr. Das liegt daran, dass sie selbst schon einige Stürme im Leben erlebt hat. Ihre Werte sind ihr Kompass, um auf Kurs zu bleiben. Auch in verletzlichen Momenten bewahrt sie ihre Stärke. Sie hat den Mut Schattenseiten genau zu betrachten, um daran zu wachsen. Ich bin gespannt, was wir heute von ihr lernen dürfen.

Darum geht’s in Kürze

Wiebke: Wie würdest du das Buch „Das Café am Rande der Welt“ in maximal fünf Sätzen zusammenfassen?

Rike: Ich weiß nicht, ob meine Beschreibung das trifft, was du gerne hören würdest.

Wiebke: Es gibt doch kein richtig und falsch. Die Zusammenfassungen geben der Buchbesprechung von Beginn an eine persönliche Note. Jede Perspektive hat ihre Berechtigung.

Rike: Stimmt. Ich wollte keine sachliche Zusammenfassung schreiben. Ich habe das hier notiert:

„Ein umgekippter Laster, ein leerer Tank und kein erkennbares Ziel. Manchmal sind es die Reise ins Nirgendwo, der unbekannte Ort und unbekannte Menschen, die uns auf die intensivste Reise unseres Lebens schicken – der Reise zu uns selbst.“

Wiebke: In deiner Beschreibung höre ich die Kulturjournalistin heraus. Es könnte ein Anfang von einem deiner Artikel sein. Ich habe als Kontrast eine Zusammenfassung mitgebracht, wie du sie nicht schreiben wolltest.

„Der Protagonist John gerät auf dem Highway in einen Stau. In seiner Ungeduld sucht er nach einem anderen Weg, um schnell ans Ziel zu gelangen. Statt zu warten, biegt er ab und nach einer Irrfahrt entdeckt er schließlich erschöpft und frustriert irgendwo im Nirgendwo das Café der Fragen. Im Café führt er erkenntnisreiche Gespräche über den Sinn des Lebens. Er entwickelt einen neuen Blick auf seine bisherigen Entscheidungen und den Wunsch nach einem erfüllten Leben. Als er weiterfährt, entdeckt er, dass er gar nicht so weit vom richtigen Weg abgekommen war, wie es zunächst schien.“

Die wichtigsten Botschaften

Wiebke: Du hast „Das Café am Rande der Welt“ nun erneut gelesen und dir gefiel es schon vorher. Welcher Aspekt ist dir am wichtigsten?

Rike: Ich finde die Grundidee schön. Denn ich lese hier immer wieder heraus: auch wenn man unbedarft vom Weg abbiegt, kommt man ans Ziel. Vielleicht gerade erst dadurch! Der Weg darf sich immer verändern. Die Botschaft, dass man andere Menschen braucht, um ans Ziel zu kommen, mochte ich auch. Das dürfen gerne Unbekannte sein. Da gerade neue Begegnungen wieder eine neue Perspektiven ermöglichen. In der Geschichte unterhält sich der Ich-Erzähler mit den Café-Besitzern und beobachtet andere Gäste. Da die Hauptfigur am Anfang eher wie ein Eigenbrödler wirkt, ist das eine schöne Entwicklung.

Wiebke: John scheint zu Beginn jemand zu sein, der immer seinen Fahrplan einhält.

Rike: Richtig, im Buch werden Stationen eines Lebens aufgezählt, in denen sich viele Leser:innen wiederfinden können. Erst studiert man bzw. bildet sich aus, dann sucht man sich einen guten Job und schließlich geht es darum aufzusteigen – und das war es dann eigentlich schon. So einen Weg hat der Protagonist eingeschlagen und fühlt sich damit leer. Das ist der Ausgangspunkt der Geschichte.

Wiebke: Hinten im Buch steht etwas über den Autor, das hat mich beschäftigt:

„Ein prägendes Erlebnis hat John Strelecky im Alter von 33 Jahren zu seiner Geschichte ,Das Café am Rande der Welt‘ inspiriert.“

Vgl. Das Café am Rande der Welt, S. 128.

Als Strelecky dieses Erlebnis hatte, das ihn nachhaltig veränderte, war er ungefähr so alt, wie wir beide heute. Wir lesen das Buch also zusammen zu einem – für uns – besonderen Zeitpunkt. Es ist aus der Perspektive eines Menschen in unserem Alter geschrieben. Es ist nicht der Blick eines alten, erfahrenen Menschen, der zurückblickt und alles weiß, sondern aus der Perspektive von jemandem erzählt, der mittendrin steckt und auf dem Weg ist.

Du hattest bei der Vorbereitung der Buchbesprechung erwähnt, dass es für dich in der Geschichte darum geht, dass man sich immer wieder neu ausrichtet. Das ist ein Leitmotiv, das jede:r in der eigenen Biografie wiederfinden kann. Es geht darum, wie man sich selbst neu erfindet oder sich verändert und zu neuer Kraft kommt.

Rike: Stimmt, aber er beschreibt auch, dass man – aus einer Verwirrung heraus oder durch einen Schicksalsschlag – an einer Stelle im Leben abbiegt, an der es eigentlich nicht geplant war. Aber diese Irrwege oder Zufälligkeiten führen einen wieder dahin, wo man eigentlich hinmöchte.

Wiebke: Wir dürfen uns fragen, ob wir noch auf dem richtigen Weg sind und was überhaupt unser Ziel ist?

Rike: Vielleicht eher, dass sich ein Ziel ändern darf. Ich glaube, die Hauptfigur ist Manager oder etwas ähnliches. Aber es bleibt am Ende die Frage, ob er das auch bleiben wird. Vielleicht macht er etwas anderes. Das bleibt offen. Es wird gezeigt, dass jede Abbiegung legitim ist.

Warum lieben wir diesen Bestseller?

Wiebke: Was glaubst du, warum das Buch so populär ist?

Rike: Viele Menschen brechen aus etablierten Mustern aus. Es ist heute nicht mehr so, dass man in die Fußstapfen der Eltern tritt. Man erbt keinen vorbestimmten Lebensweg. Nur weil der Vater Handwerker ist, muss man keine handwerkliche Ausbildung wählen. Das Kind von Akademiker:innen muss nicht zwingend studieren. Das ist heute nicht mehr zeitgemäß.

Wiebke: Die englische Erstausgabe ist im Jahr 2003 erschienen. Über so viele Jahre hat es sich zu einem Weltbestseller entwickelt und bis heute spricht die Geschichte viele Menschen an. Die Digitalisierung zwingt eigentlich jede:n von uns, den eigenen Lebensentwurf zu überdenken. Viele Berufe, die vorher identitätsstiftend waren, verändern sich oder gehen verloren. Ich denke, das färbt existentielle Fragen ein. Das Buch ist gleichzeitig so allgemein gehalten, dass es viele Leute anspricht.

Rike: Das Buch greift Fragen auf, die man sich immer wieder im Leben stellt. Die Kapitel sind kurz. Es sind schöne Illustrationen drin. Es ist kein abgehobenes philosophisches Werk. Es ist verständlich für jede:n. Es ist einfach sehr freundlich und positiv.

Wiebke: Vielleicht wie ein Kinderbuch für Erwachsene?

Rike: Ich finde man könnte es auch älteren Kindern geben. Vielleicht ist es inzwischen Schullektüre.

Wiebke: Hast du bei der Lektüre von „Das Café am Rande der Welt“ Zitate angestrichen?

Rike: Nein, da ich meine Ausgabe von einer Freundin geliehen habe.

Wiebke: Ich habe diese Passage markiert:

„Ich lehnte mich zurück und versuchte alles, was Casey mir erklärt hatte, zu verarbeiten. ‚Das heißt, es könnte die Lage auch verschlechtern‘, antwortete ich. ,So wie ich es vorhin vermutet habe: Man könnte besser damit fahren, sich die Frage nie zu stellen. Man könnte einfach so weitermachen wie bisher, quasi ohne den Geist aus der Flasche herauszulassen.“

Vgl. Das Café am Rande der Welt, S. 34.

Hier wird das Risiko angesprochen, das existenzielle Fragen begleitet. Man kann sich die Frage stellen „Warum bin ich hier auf der Welt?“ und man kann eine Antwort finden, die unglücklich macht. Denn man könnte realisieren, dass man nicht dort ist, wo man sein möchte. Die Fragenden merken, dass sie sich verirrt haben und bleiben traurig zurück. Die Frage kann die Situation also erst einmal verschlechtern. Daher ist es möglich, sich bewusst vor der Antwort zu verschließen. Die Konfrontation könnte zu schmerzhaft sein. Der Preis der Erkenntnis ist das Risiko, das die Wahrheit wehtun kann.

Rike: Das stimmt in mehrfacher Hinsicht. Das betrifft Zusammenhänge, die du vorher nicht gesehen hast oder nicht sehen wolltest. Oder du hast das Problem, dass sich deine Wünsche finanziell auswirken, weil dein neuer Traumjob weniger Geld einbringt und dein bisheriger Lebensstil damit nicht mehr bezahlbar ist. Freund:innen möchten vielleicht nicht mehr zuhörenmund sie wenden sich ab, weil ihr nicht mehr zusammenpasst. Das kann alles sein.

Wiebke: Es kann sein, dass das bisherige Leben nicht mehr zu einem passt oder, dass man selbst nicht mehr zu den Menschen passt, die zu diesem Leben gehören. Beides kann Angst machen.

Rike: Wenn du den Job wechselst, dann verlierst du die Kolleg:innen. Aber was ist, wenn die Veränderung in der Familie oder der Beziehung ein Problem wird? Oder wenn du merkst, du möchtest an einem anderen Ort wohnen, aber du hast eine Familie mit Kindern? In dem Buch steht erst mal das Individuum im Mittelpunkt, aber von solchen Entscheidungen hängen immer andere Menschen ab.  Wenn man sich diese Frage stellt, kann man schnell in einen inneren Konflikt geraten. Es wird im Buch nicht nur nach dem Sinn des Lebens gefragt. Da gibt es noch mehr Potential. Eine andere Frage ist: „Hast du Angst vor dem Tod?“ Und wie war die dritte Frage, die vorkommt?

Drei existentielle Fragen

Wiebke: Eigentlich wird in der Geschichte am häufigsten über die erste Frage „Warum bist du hier?“ gesprochen. Dadurch kommt man automatisch auf die anderen beiden Fragen. Auf der Speisekarte des Cafés steht geschrieben:

„Warum bist du hier?
Hast du Angst vor dem Tod?
Führst du ein erfülltes Leben?“

Vgl. Das Café am Rande der Welt, S. 24.

Rike: Die Fragen ändern sich doch eigentlich beim Lesen. Also eigentlich heißt es: „Warum bin ich hier? Habe ich Angst vor dem Tod? Führe ich ein erfülltes Leben?“

Wiebke: Ich möchte noch über eine andere Stelle mit dir sprechen, denn sie passt zu dem, was du vor unserem Gespräch erwähnt hast. Nämlich, dass man seine eigene Geschichte immer wieder neu schreiben kann.

„Im Laufe seines Lebens stellt der Mensch vielleicht fest, dass er 10, 20 oder Hunderte von Dingen tun möchte, um dem Zweck seiner Existenz [ZDE] gerecht zu werden. Er kann all diese Dinge tun. Unsere erfülltesten Cafégäste sind diejenigen, die ihren ZDE kennen und all die Tätigkeiten ausprobieren, die ihrer Meinung nach dieser Bestimmung dienen.“

Vgl. Das Café am Rande der Welt, S. 49.

Mir gefällt daran, dass man Dinge hinterfragen, ändern darf und als Ganzes betrachten sollte. Die Erfüllung liegt darin, dass man die Fülle des Lebens auslebt.

Rike: Es gibt viele Menschen, die ihre Zeit ausfüllen, aber sie verbringen ihre Zeit nicht mit Dingen, die ihren Zweck der Existenz erfüllen.

Wiebke: Dazu passt noch die Geschichte mit der Meeresschildkröte. In diesem Zitat wird beschrieben, was wir von ihr lernen können:

„Ich glaube, die Schildkröte… die grüne Meeresschildkröte… hat Sie Folgendes gelehrt: Wenn man nicht auf das ausgerichtet ist, was man gerne tun möchte, kann man seine Energie mit einer Menge anderer Dinge verschwenden. Wenn sich dann die Gelegenheit bietet, das zu tun, was man möchte, hat man möglicherweise nicht mehr die Kraft oder die Zeit dafür.“

Vgl. Das Café am Rande der Welt, S. 58.

Rike: An der Beschreibung des ZDE finde ich schön, dass es alles sein kann. Es wird nicht als Arbeit, besondere Kompetenzen, Reisen oder Familie definiert, sondern es wird offengelassen. Ich glaube, dass sich der Zweck der Existenz manchmal ändern kann. Es gibt schließlich unterschiedliche Lebensabschnitte. Der Zweck, den du erfüllen willst, ist z.B. Mutter zu sein. Und du bekommst Kinder, ziehst sie groß und dann gehen sie. Du bleibst zwar Mutter, aber du kannst damit nicht mehr deine Zeit füllen, weil sie aus dem Haus sind und ein eigenes Leben führen. Dann brauchst du einen neuen ZDE.

Wiebke: Vielleicht sind Werte zur Orientierung verlässlich. Unsere Werte bleiben im Leben recht stabil. Innerhalb dieses Gerüsts kann sich der ZDE ändern. Das gilt für dich doch auch gerade. Deine aktuelle Neuorientierung fügt sich in dein bisheriges Leben ein. Die Entscheidung ist zwar keine Zwangsläufigkeit. Aber sie passt zum aktuellen Stand und zu deinen Werten.

Rike: Ich habe keine scharfe Kurve genommen. Das muss aber nicht für alle so sein.

Neue Orte – neue Perspektiven

Rike: Wenn wir gerade über Zitate sprechen – gerade den Anfang mag ich gerne:

„Manchmal, wenn man es am wenigsten erwartet, […] findet man sich an einem unbekannten Ort wieder, mit Menschen, die man gleichfalls nicht kennt, und erfährt neue Dinge.“

Vgl. Das Café am Rande der Welt, S. 9.

Manchmal erfordert es einen Ortswechsel, um sich neu zu definieren.

Wiebke: Das erleichtert den Neuanfang zumindest. Ich habe es bisher immer sehr genossen, an einen neuen Ort zu gehen, wenn ich das Bedürfnis hatte mich zu verändern.

Rike: Oder man entdeckt einen neuen Ort auf bekanntem Terrain oder man lässt neue Menschen ins Leben. Man muss nicht immer alles komplett verändern.

Wiebke: Ich denke, dass man an einem anderen Ort, z.B. in einer neuen Wohnung, leichter neue Gewohnheiten etablieren kann. Noch stärker wirkt das beim Umzug in eine andere Stadt. Dort ist alles neu: Job, Leute, Wege, Routinen. Selbstverständlich ist aber Veränderung auch anders möglich. So wie du es gerade beschrieben hast: es reichen kleine Dinge, um viel zu erreichen.

Rike: Ich denke, die Veränderung im Kopf ist das Wesentliche. Das kann schon ausreichen.

Wiebke: Am Anfang steht der Gedanke. Wenn man Gewohnheiten verändert, ändern sich auch Gedanken. Das ist wechselseitig. Nur innerlich etwas zu ändern, ohne es äußerlich sichtbar zu machen, fällt mir selbst schwer. Mir ist die Selbstvergewisserung dabei wichtig. Man tut etwas, das die Repräsentation des Denkens ist. Ich glaube, es ist einfacher etwas im Kopf zu verändern, wenn man auch Handlungen ändert. Schon allein, wenn man einen anderen Weg als sonst läuft.

Rike: Das reicht ja manchmal.

Tipp für ein erfülltes Leben

Wiebke: Mir gefiel noch eine andere Passage sehr gut. Das ist die Stelle, in der eine Frau berichtet, wie sie ihr Leben vollständig verändert hat. Sie erklärt, es fing damit an, dass ich jeden Tag eine Stunde etwas tat, das ihr Spaß machte. Ohne eine Funktion – nur aus reiner Freude.

„Es fing langsam an. Zunächst nahm ich mir jede Woche etwas mehr Zeit für mich selbst. Ich hörte auf, mich als Ausgleich für die harte Arbeit mit Sachen zu belohnen, und belohnte mich stattdessen damit, dass ich tat, was ich tun wollte. Ich achtete beispielsweise darauf, jeden Tag mindestens eine Stunde lang etwas zu tun, das mir wirklich Spaß machte. Manchmal las ich einen Roman, der mich begeisterte, an anderen Tagen machte ich einen langen Spaziergang oder trieb Sport. Allmählich wurden aus der einen Stunde zwei, dann drei, und bevor ich mich’s versah, konzentrierte ich mich ganz darauf, Dinge zu tun, die ich tun wollte, Dinge, die meiner Antwort auf die Frage ,Warum bin ich hier‘ entsprachen.“

Vgl. Das Café am Rande der Welt, S. 78.

Dieses Zitat beschreibt, wie einfach man dieses erfüllte Leben erschaffen kann.

Rike: Man muss auch nicht alles ummodeln. Das kann man vielleicht gar nicht oder will es nicht. Jedenfalls braucht es das nicht. Man muss sich nur eine Stunde Raum geben für sich selbst.

Wiebke: Der Rest kommt dann von allein.

Rike: Es wird im Buch auch die Frage gestellt: Wie erreicht man etwas Großes oder Bedeutendes? Die Antwort im Buch lautet: gemeinsam mit anderen. Denn wenn du begeistert bist, ziehst du andere an, die ebenfalls begeistert sind und so werden es immer mehr.

Buchempfehlung: Wer braucht diese Lektüre?

Wiebke: Warum sollten andere dieses Buch lesen?

Rike: Weil es lebensfroh macht.

Wiebke: Das ist eine schöne Formulierung.

Rike: Es macht Lust etwas Neues zu entdecken. Eine lebensnahe Geschichte, die jeden irgendwie betrifft – wenn man möchte. Es steht im Buch schließlich auch geschrieben, dass sich manche Menschen diese Fragen nicht stellen. Aber einigen Leuten könnte es sehr gefallen. Man braucht das Buch nicht nur in Lebenskrisen, man kann es auch ohne Anlass lesen.

Wiebke: Ich habe es bisher zweimal gelesen und es war jedes Mal wie literarische Schokolade für die Seele. Schnell weg, mit Schmelz und ein wohliges Gefühl, das bleibt.

Rike: Gute Beschreibung.

Wiebke: Ich habe das schmale Buch unterschätzt. Die Geschichte hat mir mehr gegeben als gedacht.

Rike: Also es gibt andere Bücher in dem Feld, die noch mehr hergeben. Aber es ist leicht zugänglich und die Illustrationen darin haben mir gefallen. Es ist ein gutes Buch zum Verschenken. Meine Empfehlung ist das Buch wandern zu lassen. Irgendwann kommt es auf anderem Wege wieder zu einem zurück.

Wiebke: Stimmt, mein erstes Exemplar hatte ich auch weitergegeben. Es sollen möglichst viele Leute lesen.

Rike: Man hat nachhaltig etwas von der Lektüre. Es bleibt nicht der Wortlaut oder dass die Hauptfigur John heißt. Aber es bleibt die Beruhigung, dass man immer wieder selbst und neu wählen darf, wie man sein Leben gestaltet.

Wiebke: Schönes Schlusswort.


Ich habe diese Ausgabe gelesen:
John Strelecky: Das Café am Rande der Welt. Eine Erzählung über den Sinn des Lebens, 53. Auflage (Erstauflage 2003), dtv, München 2020, ISBN: 978-3-423-20969-4, 127 Seiten.

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Ein gutes Buch: „Unorthodox“ von Deborah Feldman

Vielleicht kennt ihr bereits die gleichnamige Mini-Serie, die 2020 bei Netflix erschien. Es handelt sich dabei um eine Adaption des autobiographischen Romans „Unorthodox“ von Deborah Feldman. Die Serie ist vom Buch nur inspiriert. Beide stehen eigenständig für sich selbst. Als ich letztes Jahr den Trailer sah, hatte ich vom Buch bereits gehört und die Geschichte machte mich neugierig. Mir gefiel die Bildsprache des Trailers und ich erlag dem Reiz einer unbekannten Kultur. Ich wollte mehr wissen. Die Verfilmung war beeindruckend, daher habe ich mich nun an die Lektüre der Buchvorlage gemacht. Ein starkes Buch, eine starke Verfilmung. Mir hat beides viel gegeben.

„Unorthodox“ wird als Enthüllungsbuch bezeichnet, da die Autorin ihre Erlebnisse in einer geschlossenen, religiösen Gemeinschaft mit der Öffentlichkeit teilt und sie kritisch hinterfragt. Ich habe das Buch vor allem als die ergreifende Autobiographie einer Frau meiner Generation gelesen. In entwicklungspsychologischer Hinsicht gelingt die Identifikation mit der Erzählerin sehr gut, doch findet diese Entwicklung in einem repressiven Umfeld statt. Ich war immer wieder darüber schockiert, welche Erfahrungen Feldman machte und wie unfrei sie erzogen wurde. Dieses Buch hat mir meine Privilegien wieder einmal vor Augen geführt.

Im Kontrast zur bitteren Realität der Handlung steht die innere Stärke und Haltung der Autorin. Dies macht die Geschichte von Deborah Feldman für mich so faszinierend. Sie berichtet über ihr Leben in einer ultraorthodoxen jüdischen Gemeinde der Satmarer in New York. Hineingeboren in eine chassidische Familie bestimmen religiöse Regeln ihr Leben, sie fühlt sich eingeengt und nicht zugehörig. Für Frauen lässt ihr Umfeld nur den Lebensentwurf der devoten Ehefrau und Mutter zu und innerhalb dieser Rolle gibt es keinen Raum für Individualität oder Selbstverwirklichung. Im Laufe der Jahre entfernt sich Feldman langsam von den strengen Werten und Normen. Mit Mitte zwanzig beschließt sie in ein unabhängiges Leben außerhalb ihrer Glaubensgemeinschaft aufzubrechen. Von dieser Entwicklung erzählt Feldman eindrucksvoll in ihrem Roman.

Die traditionelle Welt, in der die New Yorkerin aufwächst, scheint fast zeitlos zu sein. Obwohl Rauchwolken den Himmel verdunkeln, erreicht sie am 11. September 2001 die Nachricht von den Terroranschlägen wie aus einer anderen Welt. Dieses Ereignis und das gelegentliche Aufblitzen von Popkultur sind zeitliche Markierungen aus weiter Ferne. Bücher, Musik und Mode stehen für eine fremde Welt, nach der sich die junge Frau sehnt.

Bücher haben eine wichtige Bedeutung für Feldman. Die Mehrheit an Literatur ist ihr verboten, doch sie liest trotzdem. Bücher sind ständig ein Thema. Mal werden sie heimlich gelesen, mal schmerzlich vermisst. Sie sind das Tor zu einer anderen Welt, vermitteln neue Ideen und ermöglichten es ihr eine weitere Sprache zu lernen. Beeindruckend ist auch ihr Mut, mit dem sie Chancen ergreift. Mit jedem Buch und jeder Begegnung emanzipiert sie sich und der Glaube an ihre eigene Selbstwirksamkeit wächst. Bildung ist der Schlüssel zu ihrem neuen Leben.

Die Geschichte ist psychologisch klug erzählt. Ich konnte mich in die Protagonistin sehr gut einfühlen und auch die weiteren Personen sind empathisch beschrieben. Zwar teilt die Autorin nicht jede dieser Meinungen oder heißt deren Verhalten gut, doch kann sie andere Perspektiven und Lebensentwürfe plausibel vermitteln. Dabei zeigt sie das Dilemma auf, in das Menschen geraten können.

Die feinfühlige Erzählung von Feldman und die Einblicke, die sie in die Lebensart der chassidischen Glaubensgemeinschaft mit ihren Regeln und Traditionen gewährt, hat das Buch für mich zum echten Pageturner gemacht. Auch wenn Feldmans Jugend, mit ihren vollkommen anderen Erfahrungen, auf mich fremd wirkt und traurig macht, erzählt sie zugleich eine Geschichte über Emanzipation und die Suche nach einem authentischen Leben – und das ist uns wohl allen sehr vertraut.

Mein Fazit: Eine bewegende Geschichte. Unbedingt lesen!


Ich habe diese Ausgabe gelesen:
Deborah Feldman: Unorthodox, (engl. Erstausgabe 2012), 6. dt. Aufl., Secession Verlag für Literatur, Zürich 2016.

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Buchbesprechung: Unterleuten von Juli Zeh

Buchgespräch zum Bestseller

Über das Buch

Amira und ich sprechen über einen modernen Gesellschaftsroman. Im Jahr 2016 erschienen, hat sich der Roman „Unterleuten“ von Juli Zeh inzwischen zur Pflichtlektüre entwickelt. Scheinbar haben ihn schon alle gelesen. Mir haben Freundinnen jedes Mal berichtet, wie entsetzt sie vom Ende waren. Das hat mich neugierig gemacht. Die Lektüre fühlt sich wie ein unerträglicher Mückenstich an. Wir jucken, bis es blutet. Das ist zwar unangenehm, aber gleichzeitig sehr befriedigend. Amira und ich reden über Vater-Tochter-Beziehungen, große Egos, Perfektionismus und den Wunsch über persönliche ostdeutsche und westdeutsche Biografien zu sprechen – da es 30 Jahre nach der Wiedervereinigung, um mehr geht als Stereotype.

Wer liest?

Amira arbeitet am Theater und sie zieht ganz gern um – das haben wir gemeinsam. Vielleicht ist ihr Ziel einmal in allen Bundesländern gelebt zu haben – das bleibt ihr Geheimnis. Nach Stationen in Sachsen und Sachsen-Anhalt wohnt sie jetzt irgendwo in Bayern.


Das hat uns bewegt

Wiebke: Gut, dass wir über die Geschichte sprechen. Mich hat sie etwas verwirrt – oder sogar verstört – zurückgelassen. Warum hast du dir den Roman „Unterleuten“ ausgesucht? Was hat dich an der Geschichte besonders angesprochen?

Amira: Da ich selbst einige Jahre in Ostdeutschland gelebt habe, hat mich das Setting gelockt. Schlussendlich hat sich herausgestellt, dass der Roman keine „ostdeutsche“ Geschichte erzählt. Sie hätte in großen Teilen auch von einem westdeutschen Örtchen handeln können. Aber die regionalen Bezüge – z. B. zur DDR-Geschichte oder der große Kontrast zwischen der nahen Hauptstadt und dem Landleben – gibt es in dieser Art selbstverständlich nur in Brandenburg. Als ich das Buch las, hatte ich gerade die Serie „Warten auf‘n Bus“ gesehen. Das Leben auf dem Land im Osten beschäftigte mich daher.

Ich finde an dem Roman die Beschreibung vom Dorfleben spannend und mich haben die ostdeutschen und westdeutschen Biografien interessiert und die Dynamik, wenn Menschen mit beiden Sozialisationen aufeinandertreffen. Diese Details reizen mich, da ich mich persönlich mit ihnen schon oft beschäftigt habe. Mein Freund kommt selbst aus Rostock. Irgendwann möchte ich gerne kapieren, was da passiert, wenn sich Menschen mit diesen Hintergründen begegnen. Das Buch hilft dabei Menschen mit ihren Schicksalen zu sehen und Stereotype zu hinterfragen. Alle haben ihren einzigartigen Lebenslauf.

Wiebke: Das Buch hast du auch ausgewählt, da du dir eine Verständnishilfe erhofft hast? Diesen Wunsch habe ich bei mir auch schon bemerkt. Wir gehören beide zur ersten Generation, die im wiedervereinten Deutschland aufgewachsen ist. Die Grenze war plötzlich weg, aber das Zusammenwachsen ist ein längerer Prozess. Denn erst mit den Jahren vermischen sich die Leben weiter miteinander und es gibt mehr Berührungspunkte. In dem Buch kommen häufiger Wünsche für die nächste Generation vor. Es geht dabei, um die Auseinandersetzung mit sich selbst, was wir weitergeben, was wir hinter uns lassen und was die Kinder besser machen sollten.

Ich habe kürzlich begonnen den Podcast „Kohlkids“ zu hören. Hier werden genau solche Themen besprochen. Scheinbar gibt es ein Bedürfnis sich auszutauschen. Wir stellen uns Fragen, darüber wie die Sozialisierung im Westen und im Osten war und wie es erlebt wird, wenn auf einmal ein System nicht mehr vorhanden ist, in dem man aufgewachsen ist. Auch wenn es hier keine abschließenden Antworten gibt, ist es doch wichtig darüber zu sprechen und zu fragen: Wie hast du das erlebt? Wie war das bei euch?

Zusammenfassung – Das Buch in 5 Sätzen

Wiebke: Um in die Geschichte einzusteigen, lass uns versuchen das Buch in fünf Sätzen zusammenfassen. Das ist bei 635 Seiten in der Taschenbuch-Ausgabe recht sportlich.

Amira: Eigentlich kann man die Geschichte doch ganz kurz erklären. Es geht um den Mikrokosmos eines Dorfes, um die Lebensläufe der Figuren und um ein Thema, das plötzlich aufkommt und aus dem alle Bewohnerinnen und Bewohner ihren persönlichen Nutzen ziehen wollen.

Wiebke: So würde ich das auch beschreiben. Ich habe mir das folgendermaßen notiert:

Die Bewohner eines Dorfs in Brandenburg sind über Generationen hinweg durch ein Netz aus Intrigen und Allianzen verbunden. Der Wechsel der politischen Systeme verändert zwar die Kulisse, doch große Egos und konträre Lebensentwürfe bestimmen das Geschehen. Als ein Windpark gebaut werden soll, vermischen sich alte und neue Konflikte. Alles eskaliert und am Ende bleibt die Frage: Was ist wirklich wichtig? Wofür sollten wir uns einsetzen? Fatalismus und die Erkenntnis, dass es keine Wahrheit gibt, bleiben zurück.

Keine Held:innen, aber bewegende Figuren

Wiebke: Dass es keine Wahrheit gibt, war für mich ein sehr eindrückliches Motiv. Alle haben ihre eigene Wahrheit. Das zieht sich durch das ganze Buch. Ich habe den Figuren immer wieder zugestimmt, auch wenn die Gedankengänge teilweise bizarr waren.

Amira: Das ging mir auch so. Zu Beginn werden wir in die Perspektiven der Figuren eingeführt. Die Positionen werden überzeugend dargestellt, so dass wir im Laufe der Zeit alle Positionen nachvollziehen können. Die Beschreibung bleibt aber immer distanziert, so dass wir keine Figur ins Herz schließen. Alle anderen Figuren haben von mir immerhin noch einen Funken Sympathie bekommen. Allein die Pferdefrau – Linda Franzen – war von Anfang bis Ende bei mir unten durch.

Wiebke: Keine der Figuren eignet sich zum Superhelden. Aber hat dich eine Figur besonders bewegt?

Amira: Am Anfang hatte der Naturschützer Fließ bei mir Pluspunkte, da er ein Öko ist. Aber beim näheren Hinsehen, kommt diese Figur in der Geschichte – so wie alle – schon zu Beginn nicht gut weg. Dann ist die Figur des Gombrowski natürlich faszinierend, da er zum Schluss den letzten Schocker setzt. Und sein Widersacher Kron war auch spannend, weil er so facettenreich ist. Dass er alleinerziehender Vater war, ist zum Beispiel ein interessantes Detail, das nicht zum allgemeinen Bild dieser Figur passt.

Von Vätern und Töchtern

Wiebke: Es gibt mehrere Vater-Tochter-Beziehungen in diesem Buch. Schaller, der Schläger mit Gedächtnisverlust, zum Beispiel beschließt sich in seinem neuen Leben an jedem Tag erneut als guter Mensch zu beweisen. Das nimmt er sich für seine Tochter Miriam vor. Scheinbar hat es seine Tochter geschafft sich aus dem sozialen Milieu herausarbeiten, in dem sie groß wurde. Sie lebt inzwischen in Berlin und studiert.

Amira: Schaller ist eine sehr unsympathische Figur. Das drückt sich auch in dem Namen – das Tier – aus, den ihm die Nachbarn geben. Dass die Tochter so ein guter, moralischer Mensch sein soll, ist ein bisschen unglaubwürdig. Wie konnte sie solch ein Engel werden, wenn sie so einen Vater hat?

Wiebke: Wir erfahren von Miriam aber immer nur aus der Perspektive von Schaller selbst. Das ist keine objektive Beschreibung. Gombrowski hat auch eine Tochter – Püppi, die in Freiburg promoviert. Sie hat den Kontakt zu ihrem gewalttätigen Vater abgebrochen. Ihre Eltern finanzieren sie allerdings weiterhin. Gombrowski empfindet Püppi als undankbar und arrogant. Er wäre lieber der Vater von Betty – der Tochter seiner Freundin Hilde – die ist eher nach seinem Geschmack.

Im Gegensatz dazu hat sein Widersacher Kron genau diese Vision für seine Enkelin. Er wünscht sich für sie, dass sie eines Tages ein besseres Leben fern vom Dorf führt. Dafür möchte er ihr eine gute Ausbildung ermöglichen und hofft, dass die nächsten Generationen ihre Herkunft und alle damit verbundenen alten Konflikte vergessen. Das was Gombrowski mit Püppi bereits erreicht hat und bedauert, wünscht sich Kron für seine Familie. Allerdings hat er das im ersten Anlauf mit seiner Tochter nicht geschafft. Sie hat studiert und kam für ihren Vater ins Dorf zurück.

Im Epilog wird beschrieben, dass die Enkelin, so wie ihr Großvater zuvor, im Forsthaus leben möchte. Darin liegt eine Tragik, die sich durch das ganze Buch zieht. Die Protagonisten wünschen sich ständig etwas für eine nahestehende Figur, aber niemand erfüllt es. Denn diese Wünsche werden oft missverstanden und schließlich halten sich die Figuren selbst gefangen beim Versuch es anderen recht zu machen.

Amira: Die Geschichten der Töchter zeigen auch, dass Frauen es eher mal schaffen rauszukommen, das Dorf hinter sich zu lassen und sich zu weiterzuentwickeln. Das Dorf, in dem ich aufgewachsen bin, ist vielleicht so ein Beispiel. Jedenfalls waren es dort eher die Töchter, die weggegangen sind, um etwas ganz Neues zu beginnen. Im Roman wäre es interessant gewesen, einen Sohn im Vergleich zu sehen.

Wiebke: Mir fällt dazu noch Karl, der Indianer, ein. Er ist wahrscheinlich aus dem Dorf, aber die Figur wird nicht erklärt. Er spielt für das Dorfleben keine wesentliche Rolle und wird als Sonderling geduldet. Die Autorin hat eher die Frauenbiografien herausgearbeitet. Es gibt keinen Vergleich zu einem Sohn, der ein Erbe übernommen hat oder von dem erzählt wird, dass er weggegangen ist. Kron und Gombrowski sind zwar Söhne, die schwer an ihren Familiengeschichten tragen, aber in der nächsten Generation gibt es kein Äquivalent.

Amira: Es gibt viele Frauenschicksale in diesem Buch. Es gibt zwar auch die großen Männer, doch die Frauen machen es erst richtig vielschichtig. Es gibt eine Stelle an der Gombrowski über die Bedeutung der Frauen in seinem Leben nachdenkt:

Trotzdem liebte Grombrowski seine Frauen, jede einzelne, so verschieden sie waren. Männer besaßen keine Persönlichkeit, sie waren alle gleich. Wer echtes Leben wollte, musste sich mit Frauen umgeben.

Vgl. „Unterleuten“, S. 312.

Mit Frauen ist Entwicklung möglich, mit ihnen umgibt er sich gerne. Das ist wieder eine Seite am Gombrowski, die ihn doch zu einer meiner Lieblingsfiguren gemacht hat.

Wiebke: Eine Hassliebe. Er ist auch ein gewalttätiger Vater und Ehemann. Gombrowski ist ein fatalistischer Charakter und Machtmensch.

Amira: Und in seiner Denkweise ist seine Geschichte auch wiederum sehr traurig. Es ist wie immer in diesem Buch, wenn die Figuren ihre Perspektiven erzählen, gewinnen wir sie doch lieb. Wir können ihre Beweggründe nachvollziehen. Gombrowski will immer das Beste für das Dorf. Er möchte allen Jobs und Perspektiven eröffnen. Er reißt sich ein Bein aus, um das Land zusammenzuhalten. Aber alle jammern nur und niemandem kann er es recht machen.

Motiv: Selbstoptimierung

Wiebke: Es gibt noch ein anderes Motiv, das mich interessiert hat, da ich darin unsere Generation wiedergefunden habe. Es ist die Szene, wenn Pilz den Windpark präsentiert. Es ist die Stelle:

Was diese Generation verband, war der unbedingte Wunsch alles richtig zu machen, keinen Fehler zu machen und damit unangreifbar zu sein.“

Vgl. „Unterleuten“, S. 151.

Ähnliche Stellen gibt es bei Linda Franzen. Sie nutzt das Buch eines Selbstoptimierung-Gurus als Entscheidungshilfe. Zwischen Pilz und Franzen habe ich eine Verbindung gesehen. Ich glaube, das sind aktuell sehr verbreitete Motive: Effizienz und Fehlerfeindlichkeit.

Amira: Klar, es gilt das Beste aus uns rausholen. Es heißt „Ressourcen nutzen”. Wir machen Yoga und achten auf die Work-Life-Balance. Das ist ein Phänomen. Pilz ist zwar sehr jung und hat keine Lebenserfahrung, aber er ist professionell oder gefühlslos. Er schafft es die Reaktion des aufgebrachten Publikums nicht auf sich zu projiziert. Er ist vollkommen distanziert. Seine Motive werden nicht erklärt. Macht er das, weil erneuerbare Energien eine gute Sache sind? Macht er das für Geld? Wir kennen seine Motivation nicht. Was lässt ihn so abgebrüht sein? Aber würdest du dich damit einschließen? Ich dachte, dass für unsere Generation Geld weniger entscheidend ist und wir eher sinnstiftende Ziele verfolgen.

Wiebke: Ich würde es auch so einschätzen, dass Geld eine geringere Rolle spielt und andere Karrierewege interessant sind. Aber mir ist kontinuierlich ein Leistungsdruck begegnet und ich merke, dass ich das verinnerlicht habe. Auch wenn ich dem nie gerecht geworden bin. Durch Zentralabitur und das Bachelor-Master-System im Studium war alles durchgetaktet. Ständig gab es das nächste Ziel vor Augen. Es gibt Regelstudienpläne, die erfüllt werden sollen und die kontrolliert werden – Meilensteine wie im Job. Falls die Bürokratie nicht erfüllt wird, muss eine Extrarunde gedreht werden. In diesen idealen Plänen gibt es keine Zeit für Fehler oder Zweifel.

Diesen Anspruch habe ich auch bei anderen Studierenden beobachtet und das ging quer durch alle Disziplinen. Es macht perfektionistisch und unkreativ – das sind zwei Eigenschaften, die es erschweren mit den Widrigkeiten des Lebens umzugehen. Die Frustrationstoleranz ist sehr niedrig. Daran musste ich denken, als ich von Franzen und Pilz las. Sie sind nicht monetär getrieben, sie haben auch keine politischen Ziele. Franzen zumindest verfolgt ein individuelles Ziel und ist damit sehr egozentrisch.

Mit etwas Überwindung ein super Buch

Amira: Es hat mir sehr viel Spaß gemacht, das Buch zu lesen. Wir hatten zwar beide zu Beginn einen Hänger, aber die Handlung und die Charaktere sind spannend. Die Geschichte bekommt so eine Dynamik. Zu Beginn werden die Figuren eingeführt und alles fühlt sich ganz bequem an. Aber als schließlich der Windpark vorstellt wird, droht alles zu eskalieren.

Wiebke: Das ist genau die Stelle, an der ich beim ersten Lesen meinen inneren Widerstand überwinden musste. Hier wurde mir klar, dass ich mich mit diesen Konflikten auseinandersetzen müsste und es lagen noch so viele Seiten vor mir. Das hätte ausufernd und anstrengend werden können. Es gibt diese zahlreichen Verstrickungen, die über die Generationen hinweg weitergegeben werden, darauf musste ich mich einlassen – und dann wurde es spannend!

Amira: Die Verstrickungen sind aber auch etwas Besonderes: Unsere Generation – wir beide sind da völlig miteingeschlossen – zieht alle zwei Jahre um. Wir kennen die Geschichten, der Orte an denen wir Leben, gar nicht mehr. Es wäre schön, das zu ändern.


Ich habe diese Ausgabe gelesen:
Juli Zeh: Unterleuten, 14. Auflage (Erstauflage 2016), btb Verlag, München 2017.

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