Schlagwort: Buchgespräch

Buchbesprechung: Worüber wir sprechen, wenn wir über Bücher sprechen von Tim Parks

Ein Bücherstapel in meiner Timeline. Ich sehe ein Foto von Jennys neuen Secondhand-Büchern. Ein Cover blitzt mich an. Das ist es! Dieses Buch brauche ich für meinen Blog, um zu zeigen, weshalb Gespräche über Bücher wichtig sind: „Worüber wir sprechen, wenn wir über Bücher sprechen“ von Tim Parks. Jenny und ich unterhielten uns über Lesegewohnheiten, Perspektivwechsel, literarische Übersetzungen und die Nobelpreis-Jury. Und haben viel gelacht.

Meine Gesprächspartnerin

Am liebsten kauft Jenny Bücher gebraucht und ihr Blog läuft selbstverständlich mit Öko-Strom. Anfang 2021 hat sie ihren grünen Blog jennysview.de gestartet. Dort schreibt sie über einen nachhaltigen Lebensstil. Sie zeigt, dass es bei diesem Thema nicht um Perfektion geht, sondern dass viele kleine Dinge zählen, um einen großen Unterschied zu machen. Es ist wichtig sich auf den Weg zu machen und offen für neue Lösungen zu sein. Ihre neuen Erkenntnisse, nützlichen Tipps und Buchempfehlungen für ein klimafreundliches Leben sind sehr lesenswert. Früher hatte Jenny einen reinen Buchblog. Ihre Bücherliebe lässt sich noch in ihrem ehrgeizigen Leseziel für 2021 erkennen, das sie inzwischen übertroffen hat. 2021 hat sie mit 89 Lektüren abgeschlossen.

Zum Inhalt

In „Worüber wir sprechen, wenn wir über Bücher sprechen“ erklärt Tim Parks uns Leser:innen die Buchbranche in ihrem Facettenreichtum. In vier Teilen nimmt er uns mit auf die Reise. Er beginnt mit dem persönlichen Leseerlebnis, erklärt uns dann die Regeln des Literaturbetriebs, und lädt uns schließlich ein, die Perspektive der Autor:innen kennenzulernen. Zum Schluss geht es, um das, was mit einem Buch passiert, wenn man es in die Welt hinauslässt.


Buchgespräch mit Jenny

Wiebke: Diesmal geht es, um das Sachbuch „Worüber wir sprechen, wenn wir über Bücher sprechen“ von Tim Parks. Lass uns mit einer kurzen Zusammenfassung des Buches beginnen. In diesem Fall fiel es mir schwer.

Jenny: Ich habe einen Satz.

Wiebke: Du hast es in einem Satz zusammenfasst? Sehr minimalistisch – passend zu deinem Blog-Thema.

Jenny: Ich habe notiert:

Ein Buch, das die Buchwelt von Leser:innen über Autor:innen und Verlage bis zu Übersetzer:innen und Preisverleihungen beleuchtet.

Wiebke: Gute Lösung. Entweder du beschreibst es ausführlich oder du sagst es, wie es ist: Er versucht die ganze Buchwelt zu erklären.

Jenny: Das Buch hat so viele Facetten. Parks schaut sich die Buchwelt an und beschreibt wer wie agiert. Dazu hat er einige Male eine deutliche Meinung. Ich bin nicht mit allem einverstanden. Aber das muss man auch nicht.

Sobald in einem Buchtitel die Wörter „Buch“ oder „Lesen“ vorkommen, weiß ich: Das muss ich haben.

Jenny

Buch für Buchfans

Wiebke: Das Sachbuch habe ich bei dir im Instagram-Feed entdeckt. Ich dachte das Thema brauche ich für meinem Blog. Warum hast du dieses Buch damals gekauft?

Jenny: Ich lasse mich von Titeln und Covern schnell fangen. Sobald in einem Buchtitel die Wörter „Buch“ oder „Lesen“ vorkommen, weiß ich: Das muss ich haben. Hinzu kam, dass ich vom Autor Tim Parks schon zwei Bücher gelesen habe. Daher wusste ich schon, dass mir sein Schreibstil gefällt.

Wiebke: Ich hatte vorher noch keinen Titel von Tim Parks gelesen. Welche kennst du schon?

Jenny: Ich habe sowohl ein Sachbuch als auch einen Roman von ihm gelesen: „Die Kunst stillzusitzen“ und „Sex ist verboten“. Im Kapitel 25 beschreit Parks, dass Autor:innen ihre Stimme und ihre Arbeit im Laufe der Zeit zwangsläufig verändern. Aber Leser:innen sind davon häufig irritiert, da die Autor:innen anders schreiben als bisher. In diesem Kapitel beschreibt Parks, dass er mit zwei Büchern für irritierte Reaktionen bei Fans sorgte. Das waren die beiden Bücher, die ich bereits von ihm gelesen hatte. Daher hat mir der Bezug im Text gefallen.

Wiebke: Beschreibt er in diesem Kapitel auch, dass Autor:innen, wenn sie ein anderes Genres schreiben möchten, ein neues Pseudonym brauchen? Das wird nämlich im Buch thematisiert. Mir war vorher gar nicht bewusst, dass Schriftsteller:innen so stark mit einem Thema identifiziert werden und die Positionierung so starr ist.

Du sprichst mit deinem Beispiel einen guten Punkt an. Denn es gibt im Buch öfter Bezüge, die ich, durch die fehlende Lektüre, nicht verstand. Seien es Hinweise zu seinen eigenen Büchern oder anderer Literaten. Das war schade. Das Buch konnte ich zwar trotzdem verstehen. Aber für Literaturkenner:innen sind bestimmt noch Ebenen enthalten, die mir entgangen sind. Dennoch musste ich manchmal beim Lesen lachen.

Jenny: Er zitiert oft englischsprachige Klassiker. Ich musste viel recherchieren, um zu erfahren, wer gemeint ist. Das waren die zähen Stellen. Er kritisiert sogar dieses Verhalten und kann es doch selbst nicht lassen:

„Aber mehr noch als die Handlungen etablieren Rushdies dauernde Sprachfeuer, die vielen Pointen und Wortspiele und seine erbarmungslos zur Schau gestellte Belesenheit schnell eine Hierarchie, in der der Autor/Erzähler dominiert und dem Leser nichts anderes übrig bleibt, als in untätiger Bewunderung zu erstarren oder, falls das nicht klappt, sich zu ärgern.“

Worüber wir sprechen, wenn wir über Bücher sprechen, Kapitel 18.

Wiebke: Parks ist seit Jahrzehnten in der Branche aktiv – in so vielen Rollen. Er ist Wissenschaftler, Autor, Übersetzer und Journalist. Er ist Jahrgang 1954 und schon immer Literatur begeistert, wie er es im Buch beschreibt. Er ist Engländer, lebt in Italien und ist kulturell auch Richtung USA orientiert. Die Startseite seines Browsers zeige den Literaturteil des Guardian, so Parks. Das alles kann er nicht so leicht abschütteln. Dieses Buch ist seine persönliche Sicht auf den Literaturbetrieb. So tief werde ich niemals in diese Branche eintauchen. Aber es war sehr nett, davon einen kleinen Einblick zu bekommen.

Jenny: Er macht im Buch darauf aufmerksam, dass die Bewertung stark mit dem persönlichen Hintergrund zusammenhängt. Wir als Personen, die Rezensionen schreiben, wissen: Natürlich ist jede Bewertung individuell. Er unterstreicht, dass es für eine Bewertung aber wichtig ist, wie und wo wir aufgewachsen sind und was wir bisher erlebt haben. Dadurch werden Bücher von Leser:innen ganz individuell wahrgenommen, obwohl im Zweifel jeder das gleiche Buch liest. Jeder Mensch zieht seine eigenen Facetten aus einer Geschichte. Das habe ich mir vorher nie so bewusst gemacht.

Wiebke: Das ist der Grund, weshalb ich gerne mit vielen verschiedenen Menschen für den Blog über Bücher spreche. Über Bücher zu sprechen ist ein guter Türöffner, um auf neue Themen zu kommen und über den Gesprächspartner oder die Gesprächspartnerin etwas zu erfahren.

Es gibt Zitat, dass gut erklärt, weshalb ich gerne über Bücher spreche oder warum ich es interessant finde, in welchen Worten eine Person ein Buch zusammenfasst:

„Inzwischen ist es schon ein Gemeinplatz, dass es eine ,korrekte‘ Art Bücher zu lesen, nicht gibt: jeder von uns findet in einem Roman etwas anderes. Über spezifische Leser und spezifisches Leseverhalten wird jedoch kaum geredet, und die Rezensenten liefern uns nach wie vor Interpretationen, die, wie sie hoffen, richtungsweisend oder sogar endgültig sind. […] Würden wir [die Rezensenten] alle einmal beschreiben, was uns geprägt hat, könnte das ein wenig Licht auf unsere unterschiedlichen Wahrnehmungen werfen.“

Worüber wir sprechen, wenn wir über Bücher sprechen, Kapitel 8.

Globaler Roman und literarische Übersetzungen

Wiebke: Welche Themen sind dir im Gedächtnis geblieben?

Jenny: Mich hat fasziniert, dass wir in Europa wohl gerne übersetzte Bücher aus dem amerikanischen Raum lesen. Es war mir nicht klar, dass wir, die mit amerikanischen Filmen, Serien, Büchern usw. aufgewachsen sind, davon stark geprägt wurden. Uns ist diese Kultur so bekannt, dass wir uns leicht in diesen Medien wiederfinden. Vielleicht gilt das für die gesamte englischsprachige Popkultur. Wenn ich mir das bewusst mache, bemerke ich, dass der Zugang für mich schwieriger ist, wenn ich einen Roman aus einer anderen Kultur lese. Das hat mich nachdenklich gemacht.

Dazu passen auch seine Gedanken zum „globalen Roman“. Man muss sich als Autor:in ans Publikum anpassen, damit die internationale Leserschaft Lust hat das Buch zu kaufen. Wenn ein Buch zu speziell ist und die Zielgruppe zu klein, veröffentlichen Verlage es nicht. Ich frage mich, wie viele gute Bücher gehen uns dadurch durch die Lappen?

Wenn ein Buch zu speziell ist und die Zielgruppe zu klein, veröffentlichen Verlage es nicht. Ich frage mich, wie viele gute Bücher gehen uns durch die Lappen?

Jenny

Wiebke: Tim Parks erklärt auch, was es für ein enormes Tempo braucht, um – kurz nach der Erstveröffentlichung in der Originalsprache – schon die Übersetzungen auf den Markt zu bringen. Teilweise arbeiten mehrere Übersetzer:innen gleichzeitig daran.

Jenny: Die Autor:innen arbeiten mehrere Jahre an einem Buch und die Übersetzer:innen sollen das schnell aus dem Ärmel schütteln. Klar, sie müssen die Geschichte nicht entwickeln. Aber Parks beschreibt, was das Übersetzen für eine herausfordernde und komplexe Arbeit ist. Es ist doch beeindruckend, wie in dieser kurzen Zeit vernünftige und gute Übersetzungen gelingen. 

Wiebke: Falls dich das Thema literarische Übersetzung interessiert, habe ich vor ein paar Wochen eine sehr interessante Podcast-Folge von „Salon Holofernes“ gehört. Das ist der Podcast der Musikerin Judith Holofernes. Es geht in dem Podcast um kreatives Schaffen und kreative Berufe. In der ersten Folge interviewt sie ihre Mutter, die literarische Übersetzerin ist. In der Folge geht es um den Beruf und sie beschreibt, wie sie sich an eine Literatur-Übersetzung herantastet, wie der Prozess ist und welches Tempo gefordert ist. Sie schildert auch, wie sie in der Branche überhaupt Fuß fasste. Die Folge kann ich sehr empfehlen.

Ich schaue nun öfter danach, wer der Übersetzer oder die Übersetzerin eines Buches ist. Dafür habe ich aber noch kein Wissen aufgebaut. Das entwickelt sich erst mit der Zeit.

Müssen wir Bücher zu Ende lesen?

Wiebke: Hast du eine Lieblings-Passage?

Jenny:  Ja, das zweite Kapitel: Sollen wir Bücher zu Ende lesen? Früher war ich der Meinung: Ich muss das. Mittlerweise denke ich: Nein, das muss ich nicht. Vor dem Gespräch habe ich die Zahl noch einmal recherchiert. 2020 sind in Deutschland knapp 70.000 Bücher veröffentlicht worden. Diese Menge werde ich noch nicht einmal in meinem ganzen Leben lesen können. Jedes Jahr erscheinen wieder viele neue Bücher. Meine Zeit ist zu knapp, um mich mit einem Buch zu beschäftigen, das mich nicht fesseln kann. Wenn mich ein Buch nach spätestens 100 Seiten nicht überzeugt hat, lege ich es weg. Ich lese schließlich in der Freizeit aus Spaß, um eine schöne Zeit zu verbringen.

Parks behauptet, wenn Leser:innen ein Buch gut gefällt, sollte man eventuell aufhören, wenn es am schönsten ist.

Jenny

Aber Tim Parks ist in diesem Kapitel noch weitergegangen. Er behauptet, wenn Leser:innen ein Buch gut gefällt, sollte man eventuell aufhören, wenn es am schönsten ist. Denn im Zweifel könnte das Ende nicht gefallen und den Eindruck verändern. Er selbst hätte gerne Hamlet ohne das Blutbad am Ende gelesen. Ich kann den Gedanken nachvollziehen. Manchmal wünschte ich mir ein Kapitel früher aufgehört zu haben.

Wiebke: Das hat mir auch gut gefallen. Obwohl ich nicht weiß, ob ich damit komplett mitgehe. Einfach aufhören, weil die Handlung nicht nach dem eigenen Geschmack ist… Man muss schließlich auch andere Perspektiven aushalten können. Aber das meint er wohl nicht damit. Ich mochte daran besonders, dass er das Abbrechen nicht nur für ungebliebte Bücher vorschlägt, sondern es auch selbst mit guten Büchern so hält. Das habe ich selbst noch nie getan.

Jenny: Ich auch nicht.

Wiebke: Manchmal passiert das zufällig. Dann steht das Buch im Regal und wartet darauf fertig zu gelesen zu werden. Dann hatte ich bisher immer ein schlechtes Gewissen. Aber mit dieser Einstellung ist es viel einfacher. Es sind Bücherberge von mir abgefallen.

Jenny: Enden sind auch nicht einfach. Jede:r hat eine andere Meinung, wie ein Buch enden darf. Mir hat noch nie jemand gesagt, dass man ein gutes Buch nicht zu Ende lesen muss.

Wiebke: Für diese Erkenntnis hat sich dieses Buch allein schon gelohnt. Das Buch hat aber generell so einige Überraschungen bereitgehalten.

Literatur-Preise

Wiebke: Parks hat das Thema Preisverleihungen im Kapitel 9 kritisch beäugt. Es gibt eine Passage über den Nobelpreis für Literatur.

Um sich ein Urteil über die Nominierungen für den Literatur-Nobelpreis bilden zu können, müsste, so Parks, ein Jurymitglied jedes Jahr ungefähr 200 Bücher lesen. Dies zusätzlich zum dem regulären Arbeitspensum – meist als Professor:in einer schwedischen Universität. Viele dieser Werke erscheinen nicht auf Schwedisch und auch nicht jeder Titel liegt in einer englischen Übersetzung vor. 2011 hat die Jury dem schwedischen Schriftsteller Tomas Tranströmer den Preis verliehen. Bei seiner Einschätzung am Ende des Kapitels musste ich lachen:

„Wie erleichternd muss es unter diesen Umständen sein, ab und zu einfach zu sagen, he, was soll’s jetzt zeichnen wir mal einen Schweden aus, im diesem Fall den Achtzigjährigen, der als größter Dichter seines Landes gilt und dessen Werk, wie Peter Englund [damaliger Jurypräsident] so charmant bemerkt, in einem einzigen schmalen Taschenbuch Platz fände. Kurz gesagt einen Gewinner, den die komplette Jury innerhalb weniger Stunden im reinen und vortrefflichen schwedischen Original zu lesen vermag. Vielleicht brauchten die Juroren mal ein Sabbatical. Ganz abgesehen vom in den heutigen Krisenzeiten nicht unwichtigen Nebeneffekt, dass der mit fast einer Million Euro dotierte Preis so in Schweden verbleibt.“

Worüber wir sprechen, wenn wir über Bücher sprechen, Kapitel 9.

Jenny: Wenn man das wieder im Zusammenhang mit dem Kapitel über literarische Übersetzung betrachtet: Liest die Jury die Titel in Übersetzungen? Kann man ein Buch wirklich beurteilen, wenn man es nicht im Original liest? Bei der Übersetzung gibt es schließlich die Gefahr, dass dabei etwas verloren ging oder in der Übersetzung etwas anders ausgedrückt wird, als von den Autor:innen gemeint.

Wiebke: Das heißt Bücher werden eher in englischer oder schwedischer Übersetzung von der Jury gelesen. Bücher ohne Übersetzungen in diese Sprachen, werden wohl nicht berücksichtigt. Daher entspricht die Verleihung eher einem eurozentristischen Literaturkanon.

Jenny: Parks schildert aber auch, dass Preise genutzt werden, um politische Statements zu setzen. Man sollte Literaturpreisen als Leser:in also nicht zu viel Wert beimessen.

Wer sollte das Buch lesen?

Wiebke: Hat dir das Buch denn gefallen?

Jenny: Tim Parks hat sich über die Buchwelt viele Gedanken auf den verschiedenen Ebenen gemacht. Ich finde das super interessant. Ich denke zwar, es wird nicht maßgeblich mein Lesen verändern. Aber vielleicht in dem Punkt, dass ich mal wieder Bücher erwischen möchte, die weniger bekannt sind. Vielleicht werde ich etwas reflektierter lesen. Vielleicht frage ich mich eher, weshalb mir ein Buch gefällt.

Wiebke: Für mich hat es angestoßen stärker über meine die zukünftige Buchauswahl nachzudenken: Welchem Buch gebe ich eine Bühne? Möchte ich einen Hype befeuern? Was habe ich in einer Diskussion beizutragen? Braucht es eine kritische Stimme? Welche Bücher sind bisher wenig besprochen worden?

Das Buch hat mich darin bestärkt zukünftig vielfältiger zu lesen. Bücher sind eine Möglichkeit verschiedene Perspektiven aufs Leben zu bekommen. Das war mir nicht neu. Aber Parks ermöglicht mir als Hobby-Leserin einen neuen, größeren Blick auf den internationalen Literaturbetrieb, der mir sonst verborgen bleibt.

Jenny: Als Blogger:innen neigen wir auch dazu, die Neuerscheinungen zu bewerten, weil wir häufig Rezensionsexemplare erhalten. Es kommen jedes Jahr viele neue Bücher auf den Markt. Viele davon gehen unter, wenn keine große Medienkampagne gefahren wird. Backlist-Titeln schenke ich nun wieder mehr Aufmerksamkeit.

Wiebke: Würdest du das Buch denn empfehlen?

Jenny: Es ist ein Buch für Personen, die sich für den Literaturbetrieb interessieren. Wir erfahren, wie wir als Leser:innen ticken, wie Übersetzer:innen arbeiten, wie die Verlagswelt funktioniert, wie ein Buch in die Welt kommt. Viele, die sich mit Buchblogs beschäftigen, finden es bestimmt spannend.

So wie du es am Anfang treffend gesagt hast: Ein Buch für Menschen, die gerne das Wort „Buch“ im Titel haben.

Wiebke

Wiebke: Man muss sich mit Büchern auf einer Metaebene auseinandersetzen wollen. Es ist zwar schon ein populärwissenschaftliches Sachbuch, aber für eine spezielle Zielgruppe: für interessierte Laien. So wie du es am Anfang treffend gesagt hast: Für alle Menschen, die gerne das Wort „Buch“ im Titel haben.

Jenny: Ja, so wie für mich. Aber nicht für alle geeignet. Da fallen mir andere Bücher ein.

Wiebke: Welcher Titel wäre das denn zum Beispiel? Hast du zum Schluss für alle noch einen Buchtipp?

Jenny: Deutschland 2050. Es wird zwar nicht jede:r gut finden, aber es sollte jede:r gelesen haben. (Hier geht’s zur Rezension von Jenny)


Infos zum Buch

Ich habe diese Ausgabe gelesen:

  • Autor: Tim Parks
  • Titel: Worüber wir sprechen, wenn wir über Bücher sprechen
  • Orginaltitel: Where I’m Reading From
  • Übersetzt von Ulrike Becker und Ruth Keen
  • Erste deutsche Auflage: September 2019
  • Taschenbuch-Ausgabe: 10 Euro
  • Verlag: Goldmann
  • 283 Seiten
  • ISBN: 978-3-442-15985-7
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Buchbesprechung: Becoming von Michelle Obama

Freundschaft als Lektüreschlüssel

Janine und ich haben zusammen „Becoming. Meine Geschichte“ von Michelle Obama gelesen. Die Autobiografie ist ein internationaler Bestseller. 2018 wurde das Buch im „Oprah’s Book Club“ vorgestellt und damals musste ich es schon unbedingt lesen. Zwei Jahre später ist die deutsche Ausgabe erschienen. Zur Buchtour gibt es eine Dokumentation bei Netflix und 2021 kam sogar eine Jugendbuch-Ausgabe raus. Nun haben Janine und ich uns gemeinsam an die 544-seitige Lektüre gewagt.

Wir haben die scharfsinnigen und positiven Worte von Michelle Obama in uns aufgesogen und waren von ihrer Stärke, Intelligenz, Freundlichkeit und ihrem bodenständigen Pragmatismus beeindruckt. Sie beschreibt ein Leben, das sich zwar sehr von unserer Situation unterscheidet und dennoch erzählt sie etwas Allgemeingültiges über Hoffnung, Liebe und Verlust. Es geht darum den eigenen Platz im Leben zu finden, den Wunsch authentisch zu leben und einfach man selbst zu werden. Das berührt.

Wer liest?

Das Buchgespräch mit Janine ist schon ein Weilchen her. Um darüber zu schreiben, musste ich über das Gespräch länger nachdenken. Es war mir wichtig, dieses Buch ausgerechnet mit ihr zu lesen. Das liegt an unserer langen Freundschaft.

Wir haben schon viele Stationen unseres Lebens geteilt. Das hat mir gerade die gemeinsame Lektüre von „Becoming“ so wertvoll gemacht. Denn Michelle Obama ermutigt Frauen ihren Weg zu gehen und sich gegenseitig zu unterstützen. Wir haben uns gefragt, was uns prägte, wo wir momentan stehen und wie es weitergeht. Dabei hat uns das Buch geholfen ins Gespräch zu kommen.


Autobiografie vs. Memoiren?

Wiebke: Wie hat dir das Buch gefallen?

Janine: Ich bin bei Biografien normalerweise skeptisch. Die meisten Autobiografien, die ich bisher kenne, lesen sich eher zäh, wegen der chronologischen Aneinanderreihung von Fakten und der Schönfärberei. Hier war es ganz anders. Es ist unterhaltsam und es liest sich als würde die Autorin einfach erzählen. Manchmal gab es kurze Wiederholungen, die Bezüge herstellten, um Zusammenhänge verständlich zu machen. Ich habe es sehr gerne gelesen.

Ich bin bei Biografien normalerweise skeptisch.

Janine

Wiebke: Durch ihre persönlichen Geschichten schildert Michelle Obama zeitgeschichtliche und gesellschaftliche Entwicklungen und gibt ihnen dadurch ein Gesicht. Sie stellt Begegnungen immer wieder in einen größeren Kontext.

Janine: Richtig, es gibt viele Themen, die indirekt mitschwingen. Daher musste ich regelmäßig Pausen machen, um Abstand zum Text zu gewinnen und zu realisieren, was sie neben der eigentlichen Geschichte noch auf einer anderen Ebene sagen möchte.

Wiebke: Du hast eben deine Vorbehalte gegenüber Autobiografien erwähnt. Auf dem deutschen Buchmarkt sind eher die Genres Biografie und Autobiografie üblich. Auf dem US-amerikanischen Markt ist wohl auch die Gattung „Memoir“ verbreitet. Dazu zählt dieses Buch. Memoiren zeichnen sich durch den erzählenden Stil aus und werden von Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens geschrieben. Die Erzählung wird durch die soziale Rolle der Schreibenden geprägt. Die persönliche Geschichte ist also ein Instrument.

So ist es auch hier. Michelle Obama wählt nur Geschichten, die ihre Botschaft transportieren. Es beginnt mit ihrer Sozialisierung in der Kindheit. Ich hatte immer den Eindruck, dass die Intension des Buches an jeder Stelle durchkommt.

Darum geht’s in Kürze

Wiebke: Normalerweise beginne ich das Gespräch damit, dass jede die Geschichte einmal in fünf Sätzen zusammenfasst, um zu klären, welche Themen uns persönlich beschäftigen. Eine knappe Zusammenfassung fällt mir hier schwer. Wie würdest du das Buch beschreiben? Hast du da eine Idee?

Janine: Für mich hat sich eine Botschaft durch das ganze Buch gezogen: „Wenn du dir etwas in den Kopf gesetzt hast, dann kannst du es auch erreichen.“

Wiebke: Also ihre Version des American Dream? Das gefällt mir. Ich finde den Titel hilfreich, um sich der Erzählung zu nähern. Der englische Titel „Becoming“ wurde ebenfalls für die deutsche Ausgabe gewählt. Die Bedeutung lässt sich in der Tat schlecht übersetzen. Das Buch hat drei Teile. Es ist quasi als Klimax aufgebaut: 1. Teil: „Becoming me“ – Ich werden. 2. Teil: „Becoming us“ – Wir werden. 3. Teil „Becoming more“ – Mehr werden. Das ist schon selbsterklärend.

Janine: Im ersten Teil geht es um ihren Werdegang bis zu dem Zeitpunkt, als sie in einer Top-Kanzlei als Anwältin arbeitet und sich zufällig um den begabten Uni-Praktikanten Barack Obama kümmert. Sie verlieben sich. Dann entwickelt sich die Geschichte von den beiden zusammen weiter.

Wiebke: Der zweite Teil „Becoming us“ beginnt, nachdem sie entschieden haben, dass sie gemeinsam ihren Weg gehen werden. Dann folgt „Becoming More“. Darin wird sie First Lady und für die Nation eine Ikone. Klingt wie ein Märchen, wenn wir das so zusammenfassen.

Janine: In dem Teil beschreibt sie, wie sie plötzlich im Rampenlicht steht, obwohl sie das eigentlich nie wollte. Sie wollte zwar schon immer viel bewegen, aber sie hat es immer vermieden in der Öffentlichkeit zu stehen. Das war mir sehr sympathisch, weil sie weiterhin ihre eigenen Projekte verfolgte, obwohl sich ihr ganzes Leben änderte.

Das war mir sehr symphatisch, weil sie weiterhin ihre eigenen Projekte verfolgte, obwohl sich ihr ganzes Leben änderte.

Janine

Wiebke: Sie erklärt zuvor schon, wie sie herausfand, was ihr wichtig ist und wie es ihr und ihrem Mann gelingt sowohl allein als auch als Paar ein authentisches Leben zu führen. Im Wahlkampf und als First Lady ist sie ihren Werten treu geblieben. Sie steht weiter für ihre Themen ein und lässt sich nicht vom äußeren Druck vereinnahmen. Das ist richtig stark.

Janine: Das finde ich beeindruckend. Ich nehme ihr das in dem Buch auch voll und ganz ab.

Wiebke: Sie hat eine hohe Glaubwürdigkeit. Bei der Lektüre von Biografien kommen mir oft Gedanken, ob die Tatsachen an einigen Stellen zurechtgerückt sind. Das wird hier zwar auch der Fall sein, schließlich erzählen wir uns alle selbst unsere eigenen Lebensgeschichten entsprechend unseren persönlichen Perspektiven. Doch in diesem Buch gab es für mich keine logischen Lücken, mir kamen als Leserin keine Zweifel, daher wirkt die Erzählung sehr ehrlich auf mich.

Beste Stellen

Wiebke: Welche Passagen sind dir im Kopf geblieben?

Besonders die Geschichte mit ihrer strengen Tante, bei der sie Klavierunterricht hatte, hat mich berührt. Diese Situation hat die Vorgeschichte der beiden, in einem anderen Licht erscheinen lassen.

Janine

Janine: Mir hat gefallen, wie sie von ihrer Kindheit erzählt. Ihre Verwandten, mit denen sie aufwuchs, haben sie und ihren Bruder immer gefördert. Besonders die Geschichte mit ihrer strengen Tante, bei der sie Klavierunterricht hatte, hat mich berührt. Diese Situation hat die Vorgeschichte der beiden, in einem anderen Licht erscheinen lassen.

Das kleine Mädchen hatte bei einem Klavier-Auftritt  einen Aussetzer, denn sie fand auf dem Flügel die Tasten für die Ausgangsposition nicht. Ihre Tante stand einfach auf und half ihr. Sie gab ihr Orientierung, da sie wusste, was ihre Nichte in dem Augenblick brauchte und sie machte daraus kein Aufhebens. Ihre Hilfe war selbstverständlich. Dadurch standen nicht nur Strenge, Ernst und Disziplin im Vordergrund, auf die ihre Tante viel Wert legte, sondern es zeigte sich auch die herzliche Art der Tante.

Mir ist auch die Geschichte im Kopf geblieben, als ihre Eltern überlegten ein Haus zu kaufen. Sie fuhren mit dem Auto durch die Nachbarschaft und schauten Häuser an. Der Vater erklärte den Kindern, dass man sich für ein Haus nicht verschuldet. Das zeigt, wie bodenständig sie erzogen wurde.

Wiebke: Vor allem haben die Eltern alles in ihre Kinder investiert. Ihr ganzes Vermögen ist in die Ausbildung der beiden Kinder geflossen. Ihr Vater ist trotz schwerem Verlauf seiner MS-Erkrankung arbeiten gegangen und ihre Mutter war auch berufstätig. Sie wohnten immer in der kleinen Wohnung, um alles für die Zukunft der Kinder zu sparen.

Ich fand es beeindruckend, wie sie immer aus wenig das meiste herausholten.

Janine

Janine: Sie hatten nur drei kleine Zimmer. Mit einer Trennwand haben sie ein eigenes Zimmer für jedes Kind geschaffen. Ich fand es beeindruckend, wie sie immer aus wenig das meiste herausholten. Das Buch ist voll mit solchen Geschichten.

Wiebke: Ihre Eltern haben ihnen vieles auch indirekt mitgegeben. Die Mutter war z.B. immer an den wichtigen Stellen im Hintergrund unterstützend da, aber Michelle hat es oft gar nicht bemerkt.  Sie hat ihren Kindern die Freiheit gelassen, ihre eigenen Fehler zu machen und eine Situation alleine zu meistern, um dabei zu lernen für sich selbst einzustehen. Das fand ich sehr stark und klug. Die Eltern waren so weitsichtig.  Das muss man als Elternteil erst einmal schaffen. Schließlich waren sie selbst sehr jung.

Kindern die emotionale Stabilität in einem Elternhaus mitzugeben, in dem der Vater schwer krank ist – das stelle ich mir nicht leicht vor, aber das ist ihnen gut gelungen. Michelle Obama beschreibt, dass die Krankheit sie und ihren Bruder schon beeinflusst hat. So war beispielsweise eine gute Organisation des Alltags sehr wichtig. Es gab viele Rituale und Ausflüge mussten genau geplant werden.

Die Kinder haben früh ein großes Verantwortungsgefühl entwickelt. Das hat sie nicht unberührt gelassen. Ihrem Bruder war es eine Zeit lang wichtig einzuüben, wie er notfalls seinen Vater aus einem brennenden Haus retten könnte. Um zu starken Persönlichkeiten zu werden, bedarf es wohl einer liebevollen Familie und einer klugen Erziehung und das ist gelungen. Beide sind heute sehr erfolgreich.

Janine: Michelle war zuerst Anwältin und hatte damit einen Beruf mit hohem Status gewählt. Dann realisierte sie jedoch, dass es sie nicht erfüllte. Schließlich hat sie sich dafür entschieden, soziale Projekte zu betreuen, obwohl sie damit weniger Geld verdiente.

Wiebke: Ihr gelingt es in dem ganzen Buch die Leser:innen auf dieser Entwicklung Schritt für Schritt mitzunehmen. Sie traute sich den tradierten Weg zu verlassen und neue Chancen zu erkennen und zu ergreifen. Mich hat beeindruckt, wie sie sich diese Entscheidung erarbeitet und nach dem richtigen Job geforscht hat. Sie hat Menschen in interessanten Positionen getroffen und sich Vorbilder gesucht. Sie hat sich ihre Geschichten angehört und nach Erfahrungen gefragt, um herauszufinden, wie andere ihren Weg gefunden haben. Es gibt so viele fantastische Frauen in diesem Buch. Das ist großartig.

Egal, welchen Job sie gerade hatte, sie hat immer eine Frau gefunden, an der sie sich orientieren konnte. Das waren richtig toughe Persönlichkeiten.

Janine

Janine: Egal, welchen Job sie gerade hatte, sie hat immer eine Frau gefunden, an der sie sich orientieren konnte. Das waren richtig toughe Persönlichkeiten. Ihre Kolleginnen gaben im Job alles, aber wenn ihre Kinder sie brauchten, waren sie dort zur Stelle. Sitzungen fanden dann ohne sie statt. Sie waren da sehr konsequent.

Wiebke: Hast du mal eine Mentorin gehabt?

Janine: Mentorin ist vielleicht nicht das richtige Wort. Aber ich habe eine Freundin, die so mutig war, noch mal komplett von vorne zu beginnen. Auch wenn die Perspektive schlecht ist, sie holt immer das beste raus. Das finde ich sehr motivierend. Ich versuche mir das von ihr abzuschauen und frage sie manchmal um Rat.

Wiebke: Sicherlich bin ich vielen Frauen begegnet, die ich mir für bestimmte Aspekte zum Vorbild genommen habe. Aber eine Mentorin im Job hatte ich noch nicht. Das Konzept dahinter finde ich aber sehr spannend. So jemanden würde ich gerne einmal finden. Würdest du es eigentlich als feministisches Buch bezeichnen?

Janine: Da die Förderung von Mädchen und Frauen, eines der Herzens-Projekte von Michelle Obama ist, würde ich es auf jeden Fall als Frauen bestärkend beschreiben. Aber es entspricht nicht unserem Klischee von Feminismus, das wir noch aus den 1980er Jahren haben.

Wiebke: Hast du noch eine Lieblingsstelle im Buch?

Janine: Die Geschichte vom Heiratsantrag! Er hält sie beim Dinner hin und dann bekommt sie doch noch auf Umwegen den Ring.

Wiebke: Das ist eine sehr lustige Anekdote. Er will eigentlich gar nicht heiraten und sie unbedingt. Das Thema Ehe ist bei ihnen ein kontroverses Thema und das muss zwischen den beiden Anwält:innen erst einmal ausgiebig verhandelt werden. Als ich die Geschichte las, musste ich so lachen. Ansonsten ist der Antrag wie in einem Film: Candlelight-Dinner und der Ring kommt dann als Dessert. Aber die Vorbereitung war schon grandios!

Janine: Ja, genau. Als ich das las, dachte ich: „Oh man wie gemein ist das denn?“ Er hat sie noch mal so richtig aufs Glatteis geführt. [lacht]

Wiebke: Auf jeden Fall haben die beiden Humor. Das war auch eine meiner Lieblingsstellen.

Wer sollte das Buch lesen?

Wiebke: Würdest du das Buch weiterempfehlen?

Janine: Ich würde es allen ans Herz legen, die Interesse an Biografien haben. Der Erzählstil ist klasse. Es ist schlüssig, authentisch und motivierend geschrieben.

Wiebke: Wenn man es Teenagern schenken möchte, gibt es jetzt auch eine Jugendbuch-Ausgabe. So kann die Botschaft schon in die jüngere Generation getragen werden. Und die Erwachsenen können es mit ihren Kindern lesen und darüber sprechen.  


Infos zum Buch

Ich habe diese Ausgabe gelesen:

  • Autorin: Michelle Obama
  • Titel: Becoming. Meine Geschichte
  • Erste deutsche Auflage: 2018
  • Verlag: Goldmann
  • 455 Seiten
  • Hardcover: 26 Euro
  • ISBN: 978-3-442-31487-4

Infos zur Jugendbuch-Ausgabe:

  • Autorin: Michelle Obama
  • Becoming. Erzählt für die nächste Generation
  • Erste deutsche Auflage: 2021
  • Verlag: cbj
  • 608 Seiten
  • Hardcover: 20 Euro
  • ISBN: 978-3-570-16630-7
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Buchbesprechung: Die Mitternachtsbibliothek von Matt Haig

Buchbesprechung Die Mitternachtsbibliothek

Was wäre wenn… Eine Entwicklungsgeschichte im Multiversum

Diesmal habe ich mit Literaturbloggerin Jule über den Bestseller „Die Mitternachtsbibliothek“ von Matt Haig gesprochen. In unserer Buchbesprechung geht es darum, wie wir Entscheidungen fällen und ob wir etwas bereuen. Wir sprechen über den Umgang mit Depressionen, Existenzphilosophie und die beste aller Welten.

Wir sprechen über das ganze Buch. Falls Ihr den Roman noch lesen möchtet, überlegt Euch also, ob Ihr das Gespräch lesen mögt.

Wer liest?

Jule studiert Philosophie. Das ist ein praktischer Zufall. Schließlich ist die Romanheldin aus „Die Mitternachtsbibliothek“ ebenfalls Philosophin mit einer Vorliebe für existenzialistische Zitate. Jule schätze ich für ihre nachdenklichen und ehrlichen Texte. Auf ihrem Blog gibt es Buchtipps zu philosophischen Themen und Gegenwartsliteratur. (Hier geht’s zur Rezension auf Jules Blog.)

Zusammenfassung des Romans

Die Botschaft des Romans ist lebensbejahend. Doch beginnt er sehr dramatisch. Protagonistin Nora ist schwer depressiv und sie beschließt zu sterben. Plötzlich findet sie sich in der Mitternachtsbibliothek wieder. Einem Ort zwischen Leben und Tod, an dem sie dem Multiversum begegnet. Dort sind all die Leben in Büchern gesammelt, die sie nicht geführt hat. Nun bekommt Nora die Gelegenheit, diese Leben auszuprobieren. „Was wäre wenn“-Szenarien sind für viele von uns nette Gedankenspiele. Doch die depressive Nora bereut ihre wichtigsten Entscheidungen und sieht ihr Leben als Ausdruck verpasster Chancen. In der Mitternachtsbibliothek darf sie sich nun ein Leben wählen, das zu ihr passt. Wir Leser:innen begleiten sie auf dieser Suche. Sie ist mal Rockstar, Olympia-Schwimmerin, Gletscherforscherin und vieles mehr. Für welches Leben sie sich entscheidet, müsst Ihr selbst herausfinden. (Meine Rezension zum Buch gibt es hier.)


Gefällt’s?

Wiebke: Du hattest das Buch schon Anfang des Jahres entdeckt. Wie bist Du auf diesen Roman aufmerksam geworden?

Jule: Ich habe das Buch bei Instagram gesehen. Mich hat die Buchvorstellung von Anne von Fuxbooks neugierig gemacht.

Wiebke: Inzwischen ist auch die deutsche Ausgabe ein Bestseller. Mir haben Freundinnen das Buch empfohlen. Hat Dir das Buch gefallen?

Jule: Ich erinnere mich, dass der Roman einmal als Wohlfühl-Buch beschrieben wurde. Dieses Genre lese ich eher selten, weil ich nicht zum „Wohlfühlen“ lese. Die Geschichte war aber leicht und gut zu lesen und die Quintessenz finde ich auch wichtig. Aber ich hatte hin und wieder meine Schwierigkeiten mit dem Roman. Einiges war mir zu einfach erzählt.

Wiebke: Eine Geschichte mit wichtiger Botschaft, aber mit ungenutztem Potential. Also ein interessanter Aufhänger für unser Gespräch. Dann sprechen wir doch über die Stärken und die Schwächen des Romans.

Die Sache mit der Depression

Wiebke: Nora will sich das Leben nehmen, das ist ein harter Einstieg für ein Wohlfühl-Buch. Der Suizidversuch ist der Ausgangspunkt für die Geschichte. Ich hatte schon in meiner Rezension geschrieben, dass ich das Buch wie ein Märchen gelesen habe. Ich denke die Krankheit und der Weg aus der Depression ist zu einfach beschrieben. Wenn jemand diese Geschichte liest und noch wenig Kenntnisse über die Krankheit hat, verzerrt es den Blick darauf und bestätigt vielleicht vorhandene Vorurteile. Man sollte das Buch nicht mit dem Anspruch lesen, dabei zu erfahren wie die Perspektive von Erkrankten ist oder wie die Genesung gelingt. Ich wünsche mir ein fundiertes Vorwort für eine Neuauflage, damit die Geschichte nicht im leeren Raum stehen bleibt. Aber aus der Perspektive eines Märchens war es für mich leicht und positiv geschrieben und eine schöne Wochenend-Lektüre.

Jule: Bis ich Deine Rezension gelesen habe, ist mir dieser Aspekt gar nicht aufgefallen. Aber ich stimme Dir zu. Ich habe mich gefragt, weshalb ich das nicht so kritisch gesehen habe. Es liegt wohl daran, dass die Geschichte das Thema romantisiert und weit von der realistischen Beschreibung einer Depression entfernt ist. Noras Wahrnehmung hat mich eher an eine generelle Unzufriedenheit im Leben erinnert. Sie hatte aber nichts mit den Erfahrungen zu tun, die ich persönlich im Kontakt mit erkrankten Mitmenschen gemacht habe. Daher hatte ich mich auf andere Aspekte der Geschichte fokussiert.

Wiebke: Während der Lektüre ging es mir genauso. Mir kam der Gedankengang erst im Nachhinein, als ich mich für die Rezension mit meinem Leseeindruck auseinandergesetzt und mich mit anderen Leser:innen ausgetauscht habe. Der Suizidversuch wird nicht konkret beschrieben. Nora landet recht unvermittelt in der Mitternachtsbibliothek.

Jule: Es ist so, als würde sie sich schlafen legen und wacht dort wieder auf.

Wiebke: Die Themen Depression und Suizid sind im Roman omnipräsent, da sie die Grundlage für die Geschichte bilden. Gleichzeitig kann man das Thema überlesen – so wie Du es beschreibst. Das ist doch interessant. Weshalb ist das so? Der Autor musste eine außergewöhnliche Möglichkeit kreieren, in der Nora den Paralleluniversen begegnet. Beim Kaffeekochen passiert so etwas bestimmt nicht. Die Nahtod-Erfahrung hat er daher als Ausgangspunkt verwendet, um ihre Entwicklung anzustoßen. Wenn der Suizidversuch dramatisch geschildert worden wäre, hätte ich das Buch weggelegt. Da es aber weichgespült war, konnte ich mich auf die Geschichte einlassen. Denn hier in der Mitternachtsbibliothek werde ich als Leserin mit den wichtigen Fragen konfrontiert: Wie beeinflussen meine Entscheidungen mein Leben? Wie wurde ich zur Person, die ich heute bin? Wie gehe ich mit meinen Entscheidungen um? Wie würdest Du den Hauptgedanken der Geschichte beschreiben?

Für mich geht es darum, dass man das eigene Leben in der Hand hat.

Jule

Jule: Für mich geht es darum, dass man das eigene Leben in der Hand hat. Man sollte daher Entscheidungen im Vorhinein abwägen und sich mögliche Handlungen und deren Konsequenzen überlegen. Selbst wenn schwierige Situationen auf mich zukommen, entscheide ich mich am Ende doch selbst für das, was passiert – und das muss ich akzeptieren. Zum Schluss ist die Geschichte vielleicht auch eine Aufforderung, manches einfach etwas leichter zu nehmen.

Wiebke: Das habe ich darin auch gesehen. Ein Appell sich zusammenzureißen. Ich denke, damit kann man sich ruhig konfrontieren. Aber eignet sich das als Rat für Depressive?

Jule: Gesunden Menschen kann es bestimmt helfen wachgerüttelt zu werden. Da sich negative Denkmuster mit der Zeit festigen, ist es vielleicht eine Technik, die Depressiven in Teilen ebenfalls helfen könnte, um eine andere Perspektive einzunehmen. Aber das ist selbstverständlich nicht die Lösung des Problems. Manchmal sind Situationen nun einmal schlimm und sie verschwinden nicht einfach mit dem Motto: „Ich nehme es nicht so schwer.“

Wiebke: Der Autor hat schon mehrere Bücher über das Thema Depression geschrieben und war selbst betroffen. Matt Haig hat also Expertise. Der Roman spricht international viele Menschen an. Ich hatte mit Rike beim letzten Buchgespräch zu „Das Café am Rande der Welt“ die Vermutung aufgestellt, dass das Buch leicht daherkommt, damit sich viele Leser:innen mit diesen Themen beschäftigen.

Existenzphilosophie

Jule: Ich finde, man hätte die Geschichte schon komplexer erzählen können, auch wenn man ein breites Publikum ansprechen möchte. Die Geschichte ist eigentlich darauf angelegt. Am Anfang erfahren wir, dass Nora Philosophie mit Schwerpunkt Existenzphilosophie studiert hat. Das hat mich gleich begeistert. Aber ihre Handlungen und ihre Gespräche hatten damit wenig zu tun. Wenn man diesen Hintergrund hat, würde man doch nicht so handeln. Das hat beides für mich nicht zusammengepasst. Nora benimmt sich manchchmal kindisch und das hat mich ratlos gemacht. Nur weil der Kater stirbt und man am gleichen Tag den Job verliert, beschließt man doch nicht, dass das Leben keinen Sinn mehr hat. Auch ihre Mitmenschen waren alle nett zu ihr.

Wiebke: Sie konnte das nicht erkennen, weil sie depressiv ist.

Jule: Vielleicht. Aber das liegt bestimmt auch am Stil. Ich finde beispielsweise, dass die Figuren viel zu freundlich gezeichnet sind. Das waren keine authentischen Dialoge.

Wiebke: Die Charakterisierungen sind ziemlich stereotyp und Noras Gedanken über Personen und Situationen sind nicht so differenziert, wie man sie von einer Philosophin vermuten würde. Da gebe ich Dir recht.

Jule: Es werden Zitate von Existenzphilosophen eingeflochten, die mir alle gefallen haben. Ich würde jedoch nicht behaupten, dass man davon verstanden hätte, wie das Leben gelingt. Das ist schon komplexer. Ich hatte letztes Semester ein Seminar zum Thema Existenzphilosophie. Es ging um Fragen wie „Was ist Existenz?“, „Was ist Freiheit?“. Dadurch verändert man die eigenen Perspektiven und Handlungen. Das vermute ich erst recht, wenn man ein ganzes Studium zu diesem Thema abschließt.

Wiebke: Ist man denn als Philosophin vor Depressionen geschützt? Ich bin jetzt Advocatus Diaboli: Wenn man sich mit existenzialistischen Schriften beschäftigt, könnte das doch depressiv machen.

Jule: Wenn man in den Nihilismus abdriftet, dann auf jeden Fall.

Wiebke: Um bei der Existenzphilosophie zu bleiben: es ist eine große Verantwortung, wenn man sich jeden Tag aufs Neue beweisen muss. Man hat keinen Kredit. Wenn man einen schlechten Tag hat, denkt man vielleicht einfach: „Ich bleibe besser liegen, dann kann ich nichts falsch machen.“

Jule: Ich glaube, das geht uns doch allen manchmal so. Wie hast Du die Rolle der Philosophie im Buch gelesen?

Wiebke: Mich hat schon irritiert, dass sie entgegen ihrer eigenen Philosophie handelt. Ich finde es gut, dass Du auf diese Diskrepanz hingewiesen hast. Aber mich hat es nicht so stark gestört. Ich habe mich viel eher gefragt, wer damit erreicht werden soll. Es wird doch viel vorausgesetzt, oder? Denn mich würde interessieren, wie die Stellen gelesen werden, wenn für jemanden Existenzphilosophie Neuland ist. Wie werden die Zitate interpretiert, wenn man ihren Kontext nicht kennt?

Jule: Meinst du, dass die Zitate als Beweis für Noras Kenntnisse vom Autor gebraucht werden? Es stellt sich die Frage, ob alle Leser:innen Sartre oder Camus kennen.

Wiebke: Das zuallererst. Falls die Leser:innen sie nicht kennen, wissen sie zwangsläufig nicht, wofür die Zitate stehen. Sind die Zitate so repräsentativ gewählt, dass man sie ohne den Kontext verstehen kann? Das ist ein generelles Problem mit Zitaten.

Warum bereuen wir etwas?

Wiebke: Mich hat das Thema der Reue sehr angesprochen. Ich habe mich gefragt, ob ich etwas bereue. Auch wenn nicht alles super war, würde ich sagen: nein, ich bereue nichts. Es ist alles Teil meines Lebens und meiner Entwicklung. Wie würdest Du das beantworten?

Jule: Es gibt eine Sache, die dem Gefühl der Reue nahekommt. Aber prinzipiell würde ich sagen: nein.

Wiebke: Ich hatte bei Instagram eine kleine Umfrage gestartet. Das ist selbstverständlich nicht repräsentativ. Aber das Ergebnis war dennoch spannend, da es sehr gemischt war. Die Hälfte hat angegeben etwas zu bereuen. Scheinbar beschäftigt das Thema doch einige Menschen und nicht alle antworten darauf, wie wir beide gerade.

Ich denke, es liegt unter anderem an der Distanz, die man zu einem Thema noch nicht gefunden hat.

Jule

Jule: Ich denke, es liegt unter anderem an der Distanz, die man zu einem Thema noch nicht gefunden hat. Vielleicht liest man diesen Roman gerade aus dem Grund, weil man aktuell etwas bereut und noch nicht damit abgeschlossen hat.

Wiebke: Nicht alles, was wir bereuen, hätten wir auch wirklich verbessern können. Manchmal fühlen wir uns verantwortlich für Dinge, die wir nicht in der Hand haben. Hierzu habe ich mir ein Zitat der Bibliothekarin Mrs Elm notiert. Nora hat in der Passage gerade realisiert, dass ihr Kater ohnehin an jenem Tag gestorben wäre, gleichgültig ob sie ihn vor die Tür gelassen hätte oder nicht.

„Siehst du? Manche Reuegefühle basieren überhaupt nicht auf Fakten. Manchmal sind Reuegefühle nur…“ Mrs Elm suchte nach dem richtigen Begriff und fand ihn schließlich, „…ein Haufen Scheiße.“

Die Mitternachtsbibliothek, S. 82.

Das Zitat ist simpel. Aber es zeigt zwei Seiten der Reue. Sie kann sinnvoll sein. Schließlich können wir fatale Fehler begangen haben und damit müssen wir einen Umgang finden. Manchmal steht uns das Reuegefühl aber einfach unnötig im Weg und hält uns in unseren Gedanken gefangen.

Wir können nicht die Entscheidung und deren Konsequenzen ändern, sondern nur unsere Einstellung dazu.

Wiebke

Am Anfang bereut Nora ihre verpassten Chancen. Sie sieht sie als Fehlentscheidungen. Später ändert sie ihre Einstellung und schließt Frieden damit. Wir können nicht die Entscheidung und deren Konsequenzen ändern, sondern nur unsere Einstellung dazu. Ich selbst denke, dass meine Entscheidungen, in dem Moment einen guten Grund hatten – auch wenn das nicht zwangsläufig zu einem guten Ergebnis geführt hat.

Jule: In dem Moment hast du nach bestem Wissen und Gewissen entschieden. Das erinnert mich an die Lehre von Leibniz, die mich im Philosophie-Studium sehr berührt hat. Es geht um die Theodizee – also um den Bereich in der Philosophie, der sich mit der Gerechtigkeit Gottes beschäftigt und Antwort auf die Frage sucht, weshalb es – sofern es einen allmächtigen und guten Gott gibt – dennoch Böses auf der Welt gibt. Bei Leibniz heißt es, dass wir in der besten aller möglichen Welten leben und dass das Böse darin daher aus einem Grund existiert. Daran musste ich bei der Lektüre dieses Buches denken, schließlich hat jedes Leben, das Nora wählt, immer einen Haken. Ich denke, das ist für mich auch eine Kernaussage des Buchs: So wie es gekommen ist, hat es schon seine Berechtigung. Schließlich konntest Du nicht anders entscheiden, denn Du wusstest damals nicht, was Du jetzt weißt.


Infos zum Buch

Wir haben diese Ausgabe gelesen:

  • Autor: Matt Haig
  • Titel: Die Mitternachtsbibliothek
  • Erste deutsche Auflage: Februar 2021
  • Übersetzt von Sabine Hübner
  • Verlag: Droemer Knauer
  • 320 Seiten
  • Gebundene Ausgabe: 20 Euro
  • ISBN: 978-3-426-28256-4

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Buchbesprechung: Das Café am Rande der Welt von John Strelecky

Bücherstapel in der Mitte liegt der gelbe Buchrücken von Cafe am Rande der Welt

Ein erfüllten Leben. Wie geht das?

In diesem Gespräch nehmen Rike und ich einen internationalen Bestseller genauer unter die Lupe. Es geht um das Buch „Das Café am Rande der Welt“ von John Strelecky. Wir sprechen über nichts Geringeres als eine „Erzählung über den Sinn des Lebens“, das verspricht zumindest der Untertitel des Buches.

Wer liest?

Rike ist zufällig zu einer Expertin für „Das Café am Rande der Welt“ geworden. Sie hat das Buch inzwischen dreimal gelesen: einmal als es ihr gut ging, ein zweites Mal als es ihr weniger gut ging und schließlich zur Vorbereitung auf dieses Gespräch. Wenn ich an Rike denke, denke ich an zwei Worte mit TÄT. Eines davon ist Integrität, das andere ist Kreativität. Über Kreativität habe ich beim letzten Gespräch schon mit Stephanie gesprochen. Hier gibt’s den Beitrag für Kreative. Heute geht es aber um Sinnsuche.

Rike ist eine Frau mit Haltung. Wenn mich eine Situation irritiert, hilft mir ein Gespräch mit ihr. Das liegt daran, dass sie selbst schon einige Stürme im Leben erlebt hat. Ihre Werte sind ihr Kompass, um auf Kurs zu bleiben. Auch in verletzlichen Momenten bewahrt sie ihre Stärke. Sie hat den Mut Schattenseiten genau zu betrachten, um daran zu wachsen. Ich bin gespannt, was wir heute von ihr lernen dürfen.

Darum geht’s in Kürze

Wiebke: Wie würdest du das Buch „Das Café am Rande der Welt“ in maximal fünf Sätzen zusammenfassen?

Rike: Ich weiß nicht, ob meine Beschreibung das trifft, was du gerne hören würdest.

Wiebke: Es gibt doch kein richtig und falsch. Die Zusammenfassungen geben der Buchbesprechung von Beginn an eine persönliche Note. Jede Perspektive hat ihre Berechtigung.

Rike: Stimmt. Ich wollte keine sachliche Zusammenfassung schreiben. Ich habe das hier notiert:

„Ein umgekippter Laster, ein leerer Tank und kein erkennbares Ziel. Manchmal sind es die Reise ins Nirgendwo, der unbekannte Ort und unbekannte Menschen, die uns auf die intensivste Reise unseres Lebens schicken – der Reise zu uns selbst.“

Wiebke: In deiner Beschreibung höre ich die Kulturjournalistin heraus. Es könnte ein Anfang von einem deiner Artikel sein. Ich habe als Kontrast eine Zusammenfassung mitgebracht, wie du sie nicht schreiben wolltest.

„Der Protagonist John gerät auf dem Highway in einen Stau. In seiner Ungeduld sucht er nach einem anderen Weg, um schnell ans Ziel zu gelangen. Statt zu warten, biegt er ab und nach einer Irrfahrt entdeckt er schließlich erschöpft und frustriert irgendwo im Nirgendwo das Café der Fragen. Im Café führt er erkenntnisreiche Gespräche über den Sinn des Lebens. Er entwickelt einen neuen Blick auf seine bisherigen Entscheidungen und den Wunsch nach einem erfüllten Leben. Als er weiterfährt, entdeckt er, dass er gar nicht so weit vom richtigen Weg abgekommen war, wie es zunächst schien.“

Die wichtigsten Botschaften

Wiebke: Du hast „Das Café am Rande der Welt“ nun erneut gelesen und dir gefiel es schon vorher. Welcher Aspekt ist dir am wichtigsten?

Rike: Ich finde die Grundidee schön. Denn ich lese hier immer wieder heraus: auch wenn man unbedarft vom Weg abbiegt, kommt man ans Ziel. Vielleicht gerade erst dadurch! Der Weg darf sich immer verändern. Die Botschaft, dass man andere Menschen braucht, um ans Ziel zu kommen, mochte ich auch. Das dürfen gerne Unbekannte sein. Da gerade neue Begegnungen wieder eine neue Perspektiven ermöglichen. In der Geschichte unterhält sich der Ich-Erzähler mit den Café-Besitzern und beobachtet andere Gäste. Da die Hauptfigur am Anfang eher wie ein Eigenbrödler wirkt, ist das eine schöne Entwicklung.

Wiebke: John scheint zu Beginn jemand zu sein, der immer seinen Fahrplan einhält.

Rike: Richtig, im Buch werden Stationen eines Lebens aufgezählt, in denen sich viele Leser:innen wiederfinden können. Erst studiert man bzw. bildet sich aus, dann sucht man sich einen guten Job und schließlich geht es darum aufzusteigen – und das war es dann eigentlich schon. So einen Weg hat der Protagonist eingeschlagen und fühlt sich damit leer. Das ist der Ausgangspunkt der Geschichte.

Wiebke: Hinten im Buch steht etwas über den Autor, das hat mich beschäftigt:

„Ein prägendes Erlebnis hat John Strelecky im Alter von 33 Jahren zu seiner Geschichte ,Das Café am Rande der Welt‘ inspiriert.“

Vgl. Das Café am Rande der Welt, S. 128.

Als Strelecky dieses Erlebnis hatte, das ihn nachhaltig veränderte, war er ungefähr so alt, wie wir beide heute. Wir lesen das Buch also zusammen zu einem – für uns – besonderen Zeitpunkt. Es ist aus der Perspektive eines Menschen in unserem Alter geschrieben. Es ist nicht der Blick eines alten, erfahrenen Menschen, der zurückblickt und alles weiß, sondern aus der Perspektive von jemandem erzählt, der mittendrin steckt und auf dem Weg ist.

Du hattest bei der Vorbereitung der Buchbesprechung erwähnt, dass es für dich in der Geschichte darum geht, dass man sich immer wieder neu ausrichtet. Das ist ein Leitmotiv, das jede:r in der eigenen Biografie wiederfinden kann. Es geht darum, wie man sich selbst neu erfindet oder sich verändert und zu neuer Kraft kommt.

Rike: Stimmt, aber er beschreibt auch, dass man – aus einer Verwirrung heraus oder durch einen Schicksalsschlag – an einer Stelle im Leben abbiegt, an der es eigentlich nicht geplant war. Aber diese Irrwege oder Zufälligkeiten führen einen wieder dahin, wo man eigentlich hinmöchte.

Wiebke: Wir dürfen uns fragen, ob wir noch auf dem richtigen Weg sind und was überhaupt unser Ziel ist?

Rike: Vielleicht eher, dass sich ein Ziel ändern darf. Ich glaube, die Hauptfigur ist Manager oder etwas ähnliches. Aber es bleibt am Ende die Frage, ob er das auch bleiben wird. Vielleicht macht er etwas anderes. Das bleibt offen. Es wird gezeigt, dass jede Abbiegung legitim ist.

Warum lieben wir diesen Bestseller?

Wiebke: Was glaubst du, warum das Buch so populär ist?

Rike: Viele Menschen brechen aus etablierten Mustern aus. Es ist heute nicht mehr so, dass man in die Fußstapfen der Eltern tritt. Man erbt keinen vorbestimmten Lebensweg. Nur weil der Vater Handwerker ist, muss man keine handwerkliche Ausbildung wählen. Das Kind von Akademiker:innen muss nicht zwingend studieren. Das ist heute nicht mehr zeitgemäß.

Wiebke: Die englische Erstausgabe ist im Jahr 2003 erschienen. Über so viele Jahre hat es sich zu einem Weltbestseller entwickelt und bis heute spricht die Geschichte viele Menschen an. Die Digitalisierung zwingt eigentlich jede:n von uns, den eigenen Lebensentwurf zu überdenken. Viele Berufe, die vorher identitätsstiftend waren, verändern sich oder gehen verloren. Ich denke, das färbt existentielle Fragen ein. Das Buch ist gleichzeitig so allgemein gehalten, dass es viele Leute anspricht.

Rike: Das Buch greift Fragen auf, die man sich immer wieder im Leben stellt. Die Kapitel sind kurz. Es sind schöne Illustrationen drin. Es ist kein abgehobenes philosophisches Werk. Es ist verständlich für jede:n. Es ist einfach sehr freundlich und positiv.

Wiebke: Vielleicht wie ein Kinderbuch für Erwachsene?

Rike: Ich finde man könnte es auch älteren Kindern geben. Vielleicht ist es inzwischen Schullektüre.

Wiebke: Hast du bei der Lektüre von „Das Café am Rande der Welt“ Zitate angestrichen?

Rike: Nein, da ich meine Ausgabe von einer Freundin geliehen habe.

Wiebke: Ich habe diese Passage markiert:

„Ich lehnte mich zurück und versuchte alles, was Casey mir erklärt hatte, zu verarbeiten. ‚Das heißt, es könnte die Lage auch verschlechtern‘, antwortete ich. ,So wie ich es vorhin vermutet habe: Man könnte besser damit fahren, sich die Frage nie zu stellen. Man könnte einfach so weitermachen wie bisher, quasi ohne den Geist aus der Flasche herauszulassen.“

Vgl. Das Café am Rande der Welt, S. 34.

Hier wird das Risiko angesprochen, das existenzielle Fragen begleitet. Man kann sich die Frage stellen „Warum bin ich hier auf der Welt?“ und man kann eine Antwort finden, die unglücklich macht. Denn man könnte realisieren, dass man nicht dort ist, wo man sein möchte. Die Fragenden merken, dass sie sich verirrt haben und bleiben traurig zurück. Die Frage kann die Situation also erst einmal verschlechtern. Daher ist es möglich, sich bewusst vor der Antwort zu verschließen. Die Konfrontation könnte zu schmerzhaft sein. Der Preis der Erkenntnis ist das Risiko, das die Wahrheit wehtun kann.

Rike: Das stimmt in mehrfacher Hinsicht. Das betrifft Zusammenhänge, die du vorher nicht gesehen hast oder nicht sehen wolltest. Oder du hast das Problem, dass sich deine Wünsche finanziell auswirken, weil dein neuer Traumjob weniger Geld einbringt und dein bisheriger Lebensstil damit nicht mehr bezahlbar ist. Freund:innen möchten vielleicht nicht mehr zuhörenmund sie wenden sich ab, weil ihr nicht mehr zusammenpasst. Das kann alles sein.

Wiebke: Es kann sein, dass das bisherige Leben nicht mehr zu einem passt oder, dass man selbst nicht mehr zu den Menschen passt, die zu diesem Leben gehören. Beides kann Angst machen.

Rike: Wenn du den Job wechselst, dann verlierst du die Kolleg:innen. Aber was ist, wenn die Veränderung in der Familie oder der Beziehung ein Problem wird? Oder wenn du merkst, du möchtest an einem anderen Ort wohnen, aber du hast eine Familie mit Kindern? In dem Buch steht erst mal das Individuum im Mittelpunkt, aber von solchen Entscheidungen hängen immer andere Menschen ab.  Wenn man sich diese Frage stellt, kann man schnell in einen inneren Konflikt geraten. Es wird im Buch nicht nur nach dem Sinn des Lebens gefragt. Da gibt es noch mehr Potential. Eine andere Frage ist: „Hast du Angst vor dem Tod?“ Und wie war die dritte Frage, die vorkommt?

Drei existentielle Fragen

Wiebke: Eigentlich wird in der Geschichte am häufigsten über die erste Frage „Warum bist du hier?“ gesprochen. Dadurch kommt man automatisch auf die anderen beiden Fragen. Auf der Speisekarte des Cafés steht geschrieben:

„Warum bist du hier?
Hast du Angst vor dem Tod?
Führst du ein erfülltes Leben?“

Vgl. Das Café am Rande der Welt, S. 24.

Rike: Die Fragen ändern sich doch eigentlich beim Lesen. Also eigentlich heißt es: „Warum bin ich hier? Habe ich Angst vor dem Tod? Führe ich ein erfülltes Leben?“

Wiebke: Ich möchte noch über eine andere Stelle mit dir sprechen, denn sie passt zu dem, was du vor unserem Gespräch erwähnt hast. Nämlich, dass man seine eigene Geschichte immer wieder neu schreiben kann.

„Im Laufe seines Lebens stellt der Mensch vielleicht fest, dass er 10, 20 oder Hunderte von Dingen tun möchte, um dem Zweck seiner Existenz [ZDE] gerecht zu werden. Er kann all diese Dinge tun. Unsere erfülltesten Cafégäste sind diejenigen, die ihren ZDE kennen und all die Tätigkeiten ausprobieren, die ihrer Meinung nach dieser Bestimmung dienen.“

Vgl. Das Café am Rande der Welt, S. 49.

Mir gefällt daran, dass man Dinge hinterfragen, ändern darf und als Ganzes betrachten sollte. Die Erfüllung liegt darin, dass man die Fülle des Lebens auslebt.

Rike: Es gibt viele Menschen, die ihre Zeit ausfüllen, aber sie verbringen ihre Zeit nicht mit Dingen, die ihren Zweck der Existenz erfüllen.

Wiebke: Dazu passt noch die Geschichte mit der Meeresschildkröte. In diesem Zitat wird beschrieben, was wir von ihr lernen können:

„Ich glaube, die Schildkröte… die grüne Meeresschildkröte… hat Sie Folgendes gelehrt: Wenn man nicht auf das ausgerichtet ist, was man gerne tun möchte, kann man seine Energie mit einer Menge anderer Dinge verschwenden. Wenn sich dann die Gelegenheit bietet, das zu tun, was man möchte, hat man möglicherweise nicht mehr die Kraft oder die Zeit dafür.“

Vgl. Das Café am Rande der Welt, S. 58.

Rike: An der Beschreibung des ZDE finde ich schön, dass es alles sein kann. Es wird nicht als Arbeit, besondere Kompetenzen, Reisen oder Familie definiert, sondern es wird offengelassen. Ich glaube, dass sich der Zweck der Existenz manchmal ändern kann. Es gibt schließlich unterschiedliche Lebensabschnitte. Der Zweck, den du erfüllen willst, ist z.B. Mutter zu sein. Und du bekommst Kinder, ziehst sie groß und dann gehen sie. Du bleibst zwar Mutter, aber du kannst damit nicht mehr deine Zeit füllen, weil sie aus dem Haus sind und ein eigenes Leben führen. Dann brauchst du einen neuen ZDE.

Wiebke: Vielleicht sind Werte zur Orientierung verlässlich. Unsere Werte bleiben im Leben recht stabil. Innerhalb dieses Gerüsts kann sich der ZDE ändern. Das gilt für dich doch auch gerade. Deine aktuelle Neuorientierung fügt sich in dein bisheriges Leben ein. Die Entscheidung ist zwar keine Zwangsläufigkeit. Aber sie passt zum aktuellen Stand und zu deinen Werten.

Rike: Ich habe keine scharfe Kurve genommen. Das muss aber nicht für alle so sein.

Neue Orte – neue Perspektiven

Rike: Wenn wir gerade über Zitate sprechen – gerade den Anfang mag ich gerne:

„Manchmal, wenn man es am wenigsten erwartet, […] findet man sich an einem unbekannten Ort wieder, mit Menschen, die man gleichfalls nicht kennt, und erfährt neue Dinge.“

Vgl. Das Café am Rande der Welt, S. 9.

Manchmal erfordert es einen Ortswechsel, um sich neu zu definieren.

Wiebke: Das erleichtert den Neuanfang zumindest. Ich habe es bisher immer sehr genossen, an einen neuen Ort zu gehen, wenn ich das Bedürfnis hatte mich zu verändern.

Rike: Oder man entdeckt einen neuen Ort auf bekanntem Terrain oder man lässt neue Menschen ins Leben. Man muss nicht immer alles komplett verändern.

Wiebke: Ich denke, dass man an einem anderen Ort, z.B. in einer neuen Wohnung, leichter neue Gewohnheiten etablieren kann. Noch stärker wirkt das beim Umzug in eine andere Stadt. Dort ist alles neu: Job, Leute, Wege, Routinen. Selbstverständlich ist aber Veränderung auch anders möglich. So wie du es gerade beschrieben hast: es reichen kleine Dinge, um viel zu erreichen.

Rike: Ich denke, die Veränderung im Kopf ist das Wesentliche. Das kann schon ausreichen.

Wiebke: Am Anfang steht der Gedanke. Wenn man Gewohnheiten verändert, ändern sich auch Gedanken. Das ist wechselseitig. Nur innerlich etwas zu ändern, ohne es äußerlich sichtbar zu machen, fällt mir selbst schwer. Mir ist die Selbstvergewisserung dabei wichtig. Man tut etwas, das die Repräsentation des Denkens ist. Ich glaube, es ist einfacher etwas im Kopf zu verändern, wenn man auch Handlungen ändert. Schon allein, wenn man einen anderen Weg als sonst läuft.

Rike: Das reicht ja manchmal.

Tipp für ein erfülltes Leben

Wiebke: Mir gefiel noch eine andere Passage sehr gut. Das ist die Stelle, in der eine Frau berichtet, wie sie ihr Leben vollständig verändert hat. Sie erklärt, es fing damit an, dass ich jeden Tag eine Stunde etwas tat, das ihr Spaß machte. Ohne eine Funktion – nur aus reiner Freude.

„Es fing langsam an. Zunächst nahm ich mir jede Woche etwas mehr Zeit für mich selbst. Ich hörte auf, mich als Ausgleich für die harte Arbeit mit Sachen zu belohnen, und belohnte mich stattdessen damit, dass ich tat, was ich tun wollte. Ich achtete beispielsweise darauf, jeden Tag mindestens eine Stunde lang etwas zu tun, das mir wirklich Spaß machte. Manchmal las ich einen Roman, der mich begeisterte, an anderen Tagen machte ich einen langen Spaziergang oder trieb Sport. Allmählich wurden aus der einen Stunde zwei, dann drei, und bevor ich mich’s versah, konzentrierte ich mich ganz darauf, Dinge zu tun, die ich tun wollte, Dinge, die meiner Antwort auf die Frage ,Warum bin ich hier‘ entsprachen.“

Vgl. Das Café am Rande der Welt, S. 78.

Dieses Zitat beschreibt, wie einfach man dieses erfüllte Leben erschaffen kann.

Rike: Man muss auch nicht alles ummodeln. Das kann man vielleicht gar nicht oder will es nicht. Jedenfalls braucht es das nicht. Man muss sich nur eine Stunde Raum geben für sich selbst.

Wiebke: Der Rest kommt dann von allein.

Rike: Es wird im Buch auch die Frage gestellt: Wie erreicht man etwas Großes oder Bedeutendes? Die Antwort im Buch lautet: gemeinsam mit anderen. Denn wenn du begeistert bist, ziehst du andere an, die ebenfalls begeistert sind und so werden es immer mehr.

Buchempfehlung: Wer braucht diese Lektüre?

Wiebke: Warum sollten andere dieses Buch lesen?

Rike: Weil es lebensfroh macht.

Wiebke: Das ist eine schöne Formulierung.

Rike: Es macht Lust etwas Neues zu entdecken. Eine lebensnahe Geschichte, die jeden irgendwie betrifft – wenn man möchte. Es steht im Buch schließlich auch geschrieben, dass sich manche Menschen diese Fragen nicht stellen. Aber einigen Leuten könnte es sehr gefallen. Man braucht das Buch nicht nur in Lebenskrisen, man kann es auch ohne Anlass lesen.

Wiebke: Ich habe es bisher zweimal gelesen und es war jedes Mal wie literarische Schokolade für die Seele. Schnell weg, mit Schmelz und ein wohliges Gefühl, das bleibt.

Rike: Gute Beschreibung.

Wiebke: Ich habe das schmale Buch unterschätzt. Die Geschichte hat mir mehr gegeben als gedacht.

Rike: Also es gibt andere Bücher in dem Feld, die noch mehr hergeben. Aber es ist leicht zugänglich und die Illustrationen darin haben mir gefallen. Es ist ein gutes Buch zum Verschenken. Meine Empfehlung ist das Buch wandern zu lassen. Irgendwann kommt es auf anderem Wege wieder zu einem zurück.

Wiebke: Stimmt, mein erstes Exemplar hatte ich auch weitergegeben. Es sollen möglichst viele Leute lesen.

Rike: Man hat nachhaltig etwas von der Lektüre. Es bleibt nicht der Wortlaut oder dass die Hauptfigur John heißt. Aber es bleibt die Beruhigung, dass man immer wieder selbst und neu wählen darf, wie man sein Leben gestaltet.

Wiebke: Schönes Schlusswort.


Ich habe diese Ausgabe gelesen:
John Strelecky: Das Café am Rande der Welt. Eine Erzählung über den Sinn des Lebens, 53. Auflage (Erstauflage 2003), dtv, München 2020, ISBN: 978-3-423-20969-4, 127 Seiten.

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Buchbesprechung: Kreativität das neue Buch von Melanie Raabe

Ein inspiriendes Buch über Kreativität

Über das Buch

Stephanie und ich haben zusammen das erste Sachbuch der Krimiautorin Melanie Raabe gelesen. Es trägt den Titel „Kreativität. Wie sie uns mutiger, glücklicher und stärker macht“. Ich bin eine fleißige Hörerin von „Raabe und Kampf“, dem Kreativitäts-Podcast, der Künstlerinnen Melanie Raabe und Laura Kampf. Daher weiß ich, dass die Autorin das Buch im vergangenen Jahr schrieb, während uns Corona überrollte. Es wurde sogar noch gegen Ende 2020 veröffentlicht. Was für ein Tempo für die Entstehung eines Buchs!

Einige von Euch haben das Buch parallel mit mir gelesen und wir waren im kontinuierlichen Austausch. Das hat mich ehrlich gefreut. Es hat mir wieder gezeigt, dass für viele von Euch Kreativität ein wichtiger Wert ist, und das ist doch eine wunderbare Basis für eine Freundschaft.

Heute sprechen Stephanie und ich stellvertretend über unser Leseerlebnis. Wir sprechen über Selbstzweifel, den Kreativitäts-Begriff an sich, die Bedeutung von Konstanz und warum Produktivität für uns Fluch und Segen zugleich ist.

Wer liest?

Stephanie ist ein kreativer Geist. Das merke ich immer wieder daran, wenn sie Erlebnisse und Geschichten auf ihre fantasievolle Art beschreibt. Sie testet regelmäßig neue künstlerische Ausdrucksformen. Kennengelernt habe ich sie als Hobby-Fotografin, dann durfte ich ihre berührenden Texte lesen und aktuell begeistert sie sich für Malerei. Alles trägt ihre unverwechselbare Handschrift. Ich freue mich schon auf all die Kunstformen, die sie im Laufe der Zeit noch für sich entdecken wird.


Unser Buchgespräch

Wiebke: Normalerweise würde ich dich zu Beginn des Gesprächs fragen, weshalb du das Buch ausgewählt hast. Aber diesmal habe ich dich gefragt, ob du dieses Buch mit mir lesen möchtest. Denn zum einen bist du für mich dafür prädestiniert, um über das Thema Kreativität zu sprechen, und zum anderen verbindet uns ein gemeinsames Schreib-Projekt, das wir während unserer Studienzeit umgesetzt haben.

Stephanie: Stimmt, das haben wir eine ganze Weile verfolgt und ich bin noch heute überrascht, dass es wirklich funktioniert hat und wir dabeigeblieben sind. Wir haben uns jeden Tag hingesetzt und jede von uns hat etwas geschrieben und anschließend haben wir darüber gesprochen.

Wiebke: Es hat eine Routine ins Schreiben gebracht. Das ist ein Punkt, über den Melanie Raabe im Buch ebenfalls schreibt, daher musste ich bei der Lektüre öfter an unser Projekt von damals denken. Hat dir denn das Buch gefallen?

Stephanie: Gerade bei der Vorbereitung auf unser Gespräch ist mir aufgefallen, dass mich das vierte Kapitel eingefangen hat. Der Stil hat mich sehr angesprochen. Das Kapitel ist kurz und prägnant. Aber vor allem spricht es mich an, da es genau meine Themen behandelt. Hier hatte ich das Gefühl, als würde mir der Spiegel vorgehalten werden. Aber nicht auf eine unangenehme Art, sondern wohlwollend. Da schreibt eine Autorin, die diese Gefühle kennt. Zu erfahren, dass diese Themen viele kreative Menschen beschäftigen, war sehr spannend. In dem Kapitel geht es um Zweifel, Introvertiertheit, Perfektionismus, Ängste, Prokastination und vieles mehr. Insgesamt muss ich sagen, dass gerade die Lebensgeschichten oder Beispiele von Kreativen, die immer wieder eingestreut werden, für mich sehr ansprechend waren. Trotzdem muss ich auch sagen, dass es mir an einigen Stellen zu langatmig war. Ich hatte mir vor allem praktische Impulse erhofft, um selbst wieder kreativ zu werden. Das blieb zu Beginn aus, im Verlauf änderte sich das. Ich habe mich manchmal ungeduldig beim Lesen gefühlt, auch da gewisse Themen an mehreren Stellen im Buch aufgegriffen werden. Dieser Eindruck ist eventuell aber daher entstanden, da mir viele Themen aus dem Buch schon bekannt waren. Vielleicht erschien es mir daher gedoppelt. Jemand, der sich zum ersten Mal mit dem Thema Kreativität beschäftigt, braucht diese Wiederholungen eventuell, um diese Punkte noch einmal klar vor Augen zu haben.

Wiebke: Du bist also schon Fortgeschrittene und das Buch ist eher für Anfänger:innen gedacht?

Stephanie: So habe ich das jedenfalls empfunden.

Darum geht’s in aller Kürze

Wiebke: Dann lass uns das Buch jeweils einmal kurz und knackig zusammenfassen, damit wir auf einem gemeinsamen Stand sind.

Stephanie: Ich habe mir Folgendes notiert:

„In dem Buch versucht die Autorin meines Erachtens, mithilfe persönlicher und fremder Anekdoten die Lesenden dazu zu ermutigen, die eigene Kreativität auszuleben. Konkret veranschaulicht sie u. a., dass Kreativität nicht bedeutet, hochbegabt oder ein Genie sein zu müssen, und mit welchen Hindernissen oder Hemmnissen viele Menschen konfrontiert sind, wenn sie kreativ sein wollen. Auch gibt sie, oft auf Basis ihrer eigenen Erfahrungen, Tipps oder Empfehlungen, wie sich Alltag und kreatives Schaffen vereinbaren lassen. Im sechsten von insgesamt sieben Kapiteln richtet sie sich an Menschen, die vorhaben, ihr kreatives Hobby – so wie sie – zum Beruf zu machen.“

Wiebke: Schön zusammenfasst. Ich habe das diesmal nicht so elaboriert vorbereitet. Aber ein Kontrast ist immer gut.

„Melanie Raabe lädt mit ihrem Buch alle ein, sich auf die eigene Kreativität zu besinnen. Sie klärt auf, in welchen Facetten uns Kreativität im Alltag begegnet und plädiert dafür, sie als Kraft zu begreifen und ihr im Leben mehr Raum zu geben.“

Stephanie: Mir ist mit Hilfe deiner Formulierung der Titel des Buchs jetzt einleuchtend. Denn das ist ein Punkt, über den ich mir sehr viele Gedanken gemacht habe. Ich hatte den Eindruck, dass der Untertitel gar nicht so gut passt, weil ich gar nicht erfahren hatte, wie Kreativität uns mutiger, glücklicher oder stärker macht. Ich hatte es eher als Hypothese gelesen und wir schauen im Verlauf des Buchs, wie wir Kreativität konkret umsetzen. Aber so wie du es zusammengefasst hast, kommt die Essenz, die zwischen den Zeilen mitschwingt, stärker heraus. Wir werden nicht wegen der Kreativität mutiger sein, sondern wir sollen mutiger sein, um kreativ zu werden. Mut haben, unsere Kreativität zu leben.

Wiebke: Oder es fordert dazu auf, im Alltag den Fokus stärker darauf zu legen, wo wir Kreativität bereits zelebrieren und uns darüber gar nicht bewusst sind. Das ist interessant, dann lassen sich in den Zusammenfassungen unsere unterschiedlichen Erwartungshaltungen an das Buch herauslesen. Aber wenn wir schon bei Kreativität im Alltag sind, bringt mich das zu meiner nächsten Frage: Wann warst du heute kreativ?

Kreativität im Alltag

Stephanie: Lass mich mal überlegen. Ich glaube, ich war nämlich heute kreativ – oder doch nicht? Oder war das gestern? Ein Nebeneffekt vom ständigen Zuhausesein ist, dass ich kein Zeitgefühl mehr habe, es verschwimmt alles. Ich habe heute Tagebuch geschrieben und vorgestern habe ich ein eigenes Muffin-Rezept kreiert. Vor kurzem habe ich an einer Zeichnung gearbeitet. Aber ansonsten war ich aktuell nicht sehr kreativ.

Wiebke: Hattest du heute vielleicht einen kreativen Gedanken? Manchmal wandern die Gedanken und wir sehen Bekanntes in neuem Licht, das ist nirgendwo dokumentiert oder sichtbar.

Stephanie: Also es ist tatsächlich so, dass im Alltag manchmal Ideen aufkommen, dann denke ich: „Dazu könnte ich eine Geschichte oder ein Foto machen“. Aber nein, das hatte ich heute nicht.

Wiebke: Ich muss diese Frage heute leider auch verneinen. Vielleicht habe ich in Social Media einen Beitrag originell kommentiert. Aber es gibt andere Tage, an denen ich Interessanteres berichten könnte. Aber das finde ich für dieses Gespräch auch nicht problematisch, denn es zeigt, dass Routinen und zu viele Verpflichtungen Kreativität abtöten können. Jedenfalls ist das bei mir so. In den letzten Jahren hatte ich ständig Stress und Verpflichtungen. Meine Kreativität kommt jetzt erst zurück. Ich versuche dieser Fähigkeit wieder bewusst Raum zu geben. Ich fühle mich an Tagen zufriedener, an denen ich kreative Gedanken hatte oder etwas Nettes ohne Sinn und Zweck getan habe. Aber ich kann leider nicht sagen, dass ich das täglich erlebe. Das geht zwischen all der Disziplin, den To-do-Listen und dem Ringen um Struktur unter. Das ist traurig, denn Kreativität ist eigentlich ein Problemlöser. Wenn ich also stoisch Dinge abarbeite, stehe ich mir eigentlich selbst im Wege. Ich denke, ich sollte öfter üben, von Situationen mental zurückzutreten. Denn Distanz ermöglicht einen anderen Blick auf Dinge. Da habe ich schon Fortschritte gemacht, aber es gibt noch Potential. Ein Tag ohne Kreativität ist ein grauer Tag.

Ich war für einen begrenzten Zeitraum von Verpflichtungen befreit. Das war eine Zeit und eine Aktivität ganz ohne Druck.

Stephanie über Voraussetzungen für Kreativität

Stephanie: Das Gefühl kenne ich auch. Ich komme aus der Übung, umso mehr ich in die Mühlen des Alltags gerate. Die letzte kreative Phase, in der ich ganz im Prozess aufging, hatte ich zwischen meinem letzten und dem neuen Job. Ich bin morgens aufgestanden, um zu malen. Gar nicht für ein Ergebnis, sondern aus Freude, um eine neue Technik auszuprobieren. Das war einfach schön. Ich war für einen begrenzten Zeitraum von Verpflichtungen befreit. Das war eine Zeit und eine Aktivität ganz ohne Druck. Diese Erfahrung hatte ich schon seit Jahren nicht mehr gemacht und sie kam nur zustande, weil die Routine aufgebrochen war. Ich wusste, dass der Zeitraum begrenzt ist, danach würde etwas Neues beginnen, auf das ich mich freute. Ich konnte mich in diese „Zwischenzeit“ hineinfallen lassen. Wenn ich hingegen lange Phasen ohne Struktur erlebe, so wie z. B. jetzt gerade, wenn wir alle zu Hause sind, hemmt das meine Kreativität. Ich habe eigentlich Zeit und bin vermeintlich frei, aber wiederum auch nicht. Denn die Sachen, die mir am Herzen liegen, kann ich nicht umsetzen. Es gibt also einerseits Routinen von Arbeit und Alltag, die einschränken und Kreativität stören; aber andererseits auch Phasen, in denen es keine Struktur gibt, die sehr viel Disziplin erfordern, die ebenfalls unkreativ machen.

Was ist eigentlich Kreativität?

Wiebke: Ich kann das auch bestätigen. Zeitverknappung macht produktiv – also kreativ produktiv. Mit Produktivität ist für mich jedoch meist der Begriff Effizienz verbunden und mit diesem Gedanken habe ich so meine Probleme. Ich habe diesen Anspruch selbst ganz oft und ich bemerke ihn auch bei anderen. Inzwischen scheint es fast eine eigene Tugend zu sein: Den Tag möglichst effektiv nutzen. Aufgaben in eine ideale Reihenfolge zu bringen, damit alles wie ein Puzzle ineinandergreift. Aber darin gibt es keine Pausen – jedenfalls bei mir. So wie du es gerade beschrieben hast. Es braucht einen Raum mit Struktur und dann einen Freiraum, in dem wir uns fallen lassen können. Ohne Pausen gibt es keinen Raum für Kreativität. Mein Effizienz-Anspruch frisst diese Pausen machmal auf, damit sabotiere ich mich im Grunde selbst. Kreativität ist menschlich. Wir sind alle kreativ – auch wenn wir uns manchmal darüber nicht bewusst sind. Das ist vielleicht sogar die Kernaussage des Buchs. Mir hat das Buch bewusst gemacht, dass Kreativität mein Antrieb ist. Sie ist der gemeinsame Nenner meiner Entscheidungen, für die vielfältigen Erfahrungen, die ich gesammelt habe. Das habe ich vorher nicht erkannt. Das liegt an der offenen und weiten Definition von Kreativität, die Melanie Raabe im Buch anbietet. Es gibt vielfältige Formen, in denen sich Kreativität äußert. In diversen Ausdrucksformen und den großen und kleinen Dingen. Daher ist mir das Buch wichtig. Ich habe darin keine handfesten Tipps gesucht, sondern wollte mir selbst wieder Lust darauf machen, offener zu sein. Ich wollte meinen Blick verändern und das hat funktioniert.

Stephanie: Das habe ich auch so wahrgenommen. Dieser Gedanke, dass in kleinen Dingen des Alltags Kreativität steckt, war sehr ermutigend. Mir wird gerade bewusst, dass meine Definition von Kreativität bisher immer bedeutete, dass ein künstlerischer Wert dahinterstehen muss. Das hat mich oft gehemmt. Daher hat mir das Buch eine wichtige Erkenntnis ermöglicht. Für mich hat Kreativität bedeutet, ein Kunstwerk zu erschaffen. Es hieß, dass ich darin gut sein und das Werk vor anderen bestehen müsste. Bewertung spielte dabei eine wichtige Rolle. Die Autorin betrachtet Kreativität jedoch ganzheitlich. Sie legt anschaulich dar, dass es im Grunde um Spaß und den Prozess geht. Es geht darum, den eigenen Leidenschaften nachzugehen, die Kraft geben. Sie beschreibt, dass viele kreative Taten dazu führen, dass man weiterdenken kann. Denn wenn ich beginne, den Blick zu öffnen, fallen mir häufiger andere Dinge auf als zuvor. Mir kamen früher viele kreative Gedanken beim Zugfahren, einfach wenn ich aus dem Fenster sah – Bilder oder Geschichten, die niemals aufgeschrieben wurden. Beispielsweise in Büschen, die am Rand stehen und sich im Wind wiegen, winkende Hände zu sehen. Das sind Gedanken, die mich zum Schmunzeln bringen. Wenn ich daran denke, wie viel Kraft mir diese Fantasie damals gegeben hat… Das ist jedoch etwas, dass mir im Laufe der Zeit abhandengekommen ist. Wenn ich heute Zug fahre, schlafe ich oder schaue aufs Handy oder höre Musik und wenn ich Glück habe, spinne ich mir daraus etwas zusammen.

Wenn es dir wichtig ist, bleib dran!

Wiebke: Neben all den motivierenden Impulsen und neuen Erkenntnissen, gab es für mich einen wehmütigen Moment bei der Lektüre. Du hast vorhin gesagt, dass du den Eindruck hattest, dass sich das Buch eventuell an Anfänger:innen richtet, die sich voller Tatendrang in das Thema stürzen. Wir beide haben uns auf dem kreativen Weg schon Blessuren geholt. Wir haben zwar persönliche Erfolgsgeschichten gesammelt, aber wir sind auch schon einige Jahre versumpft.

Stephanie: Versumpft ist ein guter Ausdruck dafür.

Wiebke: Mir ist bei der Lektüre bewusst geworden, wie viel Zeit ich verloren habe, indem ich gezweifelt habe und diesen hemmenden Wertebegriff hatte. Ich dachte, so wie du es auch geschildert hast, dass Kreativität vor allem das Ergebnis ist und der Weg dahin nicht zählt. Ich habe das nicht als Ganzes gesehen. Besser gesagt, für andere konnte ich das durchaus gelten lassen, jedoch nicht für mich. Ich habe meine Entwicklung in diesem Bereich nicht gesehen, sondern nur als unstet wahrgenommen.  Dabei ist mir eine Geschichte eingefallen, die erklärt, warum es so wichtig ist, etwas zu tun und daran festzuhalten, wenn man es gerne macht – unabhängig davon, ob es ein Beruf ist oder ob überhaupt irgendjemand zuschaut.

Vor ein paar Jahren besuchte ich eine Freundin in Straßburg. Sie wohnte dort in einer alten Villa, die einer Dame gehörte. Die Dame lebte selbst in einer Seniorenresidenz und ihr Haus vermietete sie an Studierende. Es war wie aus dem Bilderbuch. Ein abgerocktes Gebäude mit knarzender Holztreppe. Der Flur war vollgehängt mit alten Ausstellungsplakaten aus den 80er Jahren, in den Wohnungen Reise-Souvenirs und Spuren eines Lebens. Alles erzählte die Geschichte einer Familie, die dort einmal gelebt hat. Ich habe die Dame niemals kennengelernt, aber sie war omnipräsent. Mit ihr verband ich eine Gastfreundlichkeit und Weltoffenheit, das allein war beeindruckend. Diese Dame hat ihr Leben lang gemalt und gezeichnet und die Bilder waren im ganzen Haus verteilt. Es gab kein Zimmer, in dem nicht mindestens ein gerahmtes Bild von ihr hing. Sie waren alle signiert und datiert. An Motiven, Themen, Stilen und Materialien war zu erkennen, was sie über die Jahrzehnte beschäftigte. An den Bildern ließ sich ihre Entwicklung ablesen. Sie hat nur für sich gemalt und die Bilder nur für sich aufgehängt. Ziel war weder ein Verkauf noch ein Publikum aus Studierenden. Es stecken viele Themen in dieser Geschichte. Die Dame hat in ihrem eigenen Haus kuratiert. Sie hat bestimmten Bildern durch die Rahmung Bedeutung verliehen, überlegt, welche Bilder sie täglich vor Augen haben mag, was in ihrem Schlafzimmer hängen soll, welche Bilder sie ins Gästezimmer hängt oder im Flur zu sehen sind, wenn der Postbote klingelt. Es ging um Selbstvergewisserung und Identität. Diese Geschichte hat mir vor Augen geführt, was Konstanz bedeuten kann. Einfach dranbleiben ist das Credo. Denn am Ende des Lebens können wir auf etwas Besonderes zurückblicken. Im Rückblick ergeben sich wieder andere Perspektiven. Das möchte ich auch einmal erleben. Es ist so wertvoll, eine persönliche kreative Ausdrucksform zu finden und daran festzuhalten – unabhängig von Bewertungen anderer.

Stephanie: Das ist schön. Solche Geschichten, werden im Buch auch immer mal wieder aufgegriffen. Deine Erzählung passt dazu.

Mir gefiel ihre bodenständige Art, dass sie eben nicht den Eindruck vermittelt, nur besonders innovative Ideen hätten eine Daseinsberechtigung

Stephanie über die symphatische Autorin

Wiebke: Was hat dich persönlich an dem Buch angesprochen?

Stephanie: Vieles haben wir schon erwähnt. Persönlich angesprochen hat mich auch die sympathische Autorin. Mir gefiel ihre bodenständige Art, dass sie eben nicht den Eindruck vermittelt, nur besonders innovative Ideen hätten eine Daseinsberechtigung oder als wisse sie als erfolgreiche Autorin ganz genau, wie der Hase läuft. Denn sie schildert gelegentlich persönliche Hürden, die sie auf ihrem Weg meistern musste. Dadurch konnte ich mich an einigen Stellen sehr gut mit ihr identifizieren – und manchmal fühlte ich mich sogar etwas durchschaut. Sowohl die immer wieder eingestreuten Empfehlungen (für Websites, Podcasts und Apps) als auch die Geschichten aus dem Leben berühmter Menschen finde ich unterhaltsam. Das Buch hat mir vor Augen geführt, dass ich die Alltagskreativität wieder mehr in meinem Leben haben möchte.

Das hätten wir gerne früher gewusst

Wiebke: Im Vorhinein habe ich dich gefragt: „Wenn du eine Postkarte an dein jüngeres Ich schreiben würdest. Welche drei Tipps oder kleinen Geschichten würdest du aufschreiben?“

Stephanie: Es ist eher ein Brief als eine Postkarte geworden. Ich habe mir einige Stellen aus dem Buch herausgesucht, die mir wichtig sind und mein jüngeres Ich bestimmt angesprochen hätten:

Du musst keine offiziell anerkannte Künstlerin werden und es macht trotzdem Sinn, dir Zeit zu nehmen, um kreativ zu sein. Denn dies lässt dich aufblühen und gibt dir Kraft und Motivation für die alltäglichen Herausforderungen.

Vgl. „Kreativität“, S. 39.

„Zu hohe Erwartungen töten Kreativität.“ Erwarte keinen Lohn oder Anerkennung für das, was du machst, denke also nicht an die Reaktionen auf das Ergebnis, sondern genieße den Prozess. Dich bewegt und beschäftigt etwas, das möchtest du kreativ verarbeiten. Tu es und denke nicht darüber nach, was andere dazu sagen könnten oder damit anfangen würden.

Vgl. „Kreativität“, S. 205.

Wenn du deine Produkte zeigst oder teilst, merke dir: Kritik sagt in erster Linie nichts über dich und dein Werk aus, aber eine Menge über die Person, von der sie kam . Es dauert lange, es braucht Durchhaltevermögen und es macht doch Spaß und Freude, eine Sandburg zu bauen. Sie zu zerstören dauert eine Sekunde und erfordert nichts außer Zerstörungswillen. Hab‘ also keine Angst vor der Meinung anderer, schäme dich nicht für das, was du tust. Denn du machst es mit Leidenschaft, du investierst viel Zeit und Gedanken und es erfüllt dich, auch wenn das Produkt nicht perfekt oder ein Meisterwerk ist.

Vgl. „Kreativität“, S. 210-212.

Dieses Bild von dem Kind war für mich anschaulich. Es hat mühevoll seine Sandburg aufbaut und dann kommt jemand und tritt rein. Das hat mich sehr berührt und ich glaube, das wäre schon meinem früheren Ich so gegangen.

Wiebke: Vor allem helfen Bilder sehr dabei, Dinge zu verinnerlichen. Sie können leicht mit dem Gefühl verknüpft werden. Die ausgewählten Passagen aus dem Buch greifen auf, was wir vorher schon lose besprochen hatten. Schön, damit haben unsere Leser:innen gleich die passenden Textstellen parat.

Stephanie: Was würdest du denn deinem jüngeren Ich mitteilen?

Wiebke: Nachdem ich das Buch fertiggelesen hatte, schrieb ich aus dem Zusammenhang diese Postkarte:
„Fang einfach an. Kultiviere deinen besonderen Blick auf die Welt. Auch wenn dich einige Menschen dafür vielleicht seltsam finden könnten. Kreativität ist dein persönlicher Schatz. Menschen, die dich lieben, lieben dich für diese besondere Art. Wenn du dir treu bleibst, wirst du auch andere Menschen dazu inspirieren. Kultiviere die großen und kleinen kreativen Gedanken – auch die originellen Antworten und die kleinen Gesten. Und hab‘ immer ein Notizbuch dabei!“

Stephanie: Das sind Tipps, die ich nicht nur für mein jüngeres Ich, sondern auch für jetzt gerne festhalten würde. Einfach, um mich immer mal wieder daran zu erinnern.


Wir haben diese Ausgabe gelesen:
Melanie Raabe: Kreativität. Wie sie uns mutiger und stärker macht, btb, München 2020, [ISBN: 978-3-442-75892-0, Hardcover, 325 Seiten.]

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Buchbesprechung: Unterleuten von Juli Zeh

Buchgespräch zum Bestseller

Über das Buch

Amira und ich sprechen über einen modernen Gesellschaftsroman. Im Jahr 2016 erschienen, hat sich der Roman „Unterleuten“ von Juli Zeh inzwischen zur Pflichtlektüre entwickelt. Scheinbar haben ihn schon alle gelesen. Mir haben Freundinnen jedes Mal berichtet, wie entsetzt sie vom Ende waren. Das hat mich neugierig gemacht. Die Lektüre fühlt sich wie ein unerträglicher Mückenstich an. Wir jucken, bis es blutet. Das ist zwar unangenehm, aber gleichzeitig sehr befriedigend. Amira und ich reden über Vater-Tochter-Beziehungen, große Egos, Perfektionismus und den Wunsch über persönliche ostdeutsche und westdeutsche Biografien zu sprechen – da es 30 Jahre nach der Wiedervereinigung, um mehr geht als Stereotype.

Wer liest?

Amira arbeitet am Theater und sie zieht ganz gern um – das haben wir gemeinsam. Vielleicht ist ihr Ziel einmal in allen Bundesländern gelebt zu haben – das bleibt ihr Geheimnis. Nach Stationen in Sachsen und Sachsen-Anhalt wohnt sie jetzt irgendwo in Bayern.


Das hat uns bewegt

Wiebke: Gut, dass wir über die Geschichte sprechen. Mich hat sie etwas verwirrt – oder sogar verstört – zurückgelassen. Warum hast du dir den Roman „Unterleuten“ ausgesucht? Was hat dich an der Geschichte besonders angesprochen?

Amira: Da ich selbst einige Jahre in Ostdeutschland gelebt habe, hat mich das Setting gelockt. Schlussendlich hat sich herausgestellt, dass der Roman keine „ostdeutsche“ Geschichte erzählt. Sie hätte in großen Teilen auch von einem westdeutschen Örtchen handeln können. Aber die regionalen Bezüge – z. B. zur DDR-Geschichte oder der große Kontrast zwischen der nahen Hauptstadt und dem Landleben – gibt es in dieser Art selbstverständlich nur in Brandenburg. Als ich das Buch las, hatte ich gerade die Serie „Warten auf‘n Bus“ gesehen. Das Leben auf dem Land im Osten beschäftigte mich daher.

Ich finde an dem Roman die Beschreibung vom Dorfleben spannend und mich haben die ostdeutschen und westdeutschen Biografien interessiert und die Dynamik, wenn Menschen mit beiden Sozialisationen aufeinandertreffen. Diese Details reizen mich, da ich mich persönlich mit ihnen schon oft beschäftigt habe. Mein Freund kommt selbst aus Rostock. Irgendwann möchte ich gerne kapieren, was da passiert, wenn sich Menschen mit diesen Hintergründen begegnen. Das Buch hilft dabei Menschen mit ihren Schicksalen zu sehen und Stereotype zu hinterfragen. Alle haben ihren einzigartigen Lebenslauf.

Wiebke: Das Buch hast du auch ausgewählt, da du dir eine Verständnishilfe erhofft hast? Diesen Wunsch habe ich bei mir auch schon bemerkt. Wir gehören beide zur ersten Generation, die im wiedervereinten Deutschland aufgewachsen ist. Die Grenze war plötzlich weg, aber das Zusammenwachsen ist ein längerer Prozess. Denn erst mit den Jahren vermischen sich die Leben weiter miteinander und es gibt mehr Berührungspunkte. In dem Buch kommen häufiger Wünsche für die nächste Generation vor. Es geht dabei, um die Auseinandersetzung mit sich selbst, was wir weitergeben, was wir hinter uns lassen und was die Kinder besser machen sollten.

Ich habe kürzlich begonnen den Podcast „Kohlkids“ zu hören. Hier werden genau solche Themen besprochen. Scheinbar gibt es ein Bedürfnis sich auszutauschen. Wir stellen uns Fragen, darüber wie die Sozialisierung im Westen und im Osten war und wie es erlebt wird, wenn auf einmal ein System nicht mehr vorhanden ist, in dem man aufgewachsen ist. Auch wenn es hier keine abschließenden Antworten gibt, ist es doch wichtig darüber zu sprechen und zu fragen: Wie hast du das erlebt? Wie war das bei euch?

Zusammenfassung – Das Buch in 5 Sätzen

Wiebke: Um in die Geschichte einzusteigen, lass uns versuchen das Buch in fünf Sätzen zusammenfassen. Das ist bei 635 Seiten in der Taschenbuch-Ausgabe recht sportlich.

Amira: Eigentlich kann man die Geschichte doch ganz kurz erklären. Es geht um den Mikrokosmos eines Dorfes, um die Lebensläufe der Figuren und um ein Thema, das plötzlich aufkommt und aus dem alle Bewohnerinnen und Bewohner ihren persönlichen Nutzen ziehen wollen.

Wiebke: So würde ich das auch beschreiben. Ich habe mir das folgendermaßen notiert:

Die Bewohner eines Dorfs in Brandenburg sind über Generationen hinweg durch ein Netz aus Intrigen und Allianzen verbunden. Der Wechsel der politischen Systeme verändert zwar die Kulisse, doch große Egos und konträre Lebensentwürfe bestimmen das Geschehen. Als ein Windpark gebaut werden soll, vermischen sich alte und neue Konflikte. Alles eskaliert und am Ende bleibt die Frage: Was ist wirklich wichtig? Wofür sollten wir uns einsetzen? Fatalismus und die Erkenntnis, dass es keine Wahrheit gibt, bleiben zurück.

Keine Held:innen, aber bewegende Figuren

Wiebke: Dass es keine Wahrheit gibt, war für mich ein sehr eindrückliches Motiv. Alle haben ihre eigene Wahrheit. Das zieht sich durch das ganze Buch. Ich habe den Figuren immer wieder zugestimmt, auch wenn die Gedankengänge teilweise bizarr waren.

Amira: Das ging mir auch so. Zu Beginn werden wir in die Perspektiven der Figuren eingeführt. Die Positionen werden überzeugend dargestellt, so dass wir im Laufe der Zeit alle Positionen nachvollziehen können. Die Beschreibung bleibt aber immer distanziert, so dass wir keine Figur ins Herz schließen. Alle anderen Figuren haben von mir immerhin noch einen Funken Sympathie bekommen. Allein die Pferdefrau – Linda Franzen – war von Anfang bis Ende bei mir unten durch.

Wiebke: Keine der Figuren eignet sich zum Superhelden. Aber hat dich eine Figur besonders bewegt?

Amira: Am Anfang hatte der Naturschützer Fließ bei mir Pluspunkte, da er ein Öko ist. Aber beim näheren Hinsehen, kommt diese Figur in der Geschichte – so wie alle – schon zu Beginn nicht gut weg. Dann ist die Figur des Gombrowski natürlich faszinierend, da er zum Schluss den letzten Schocker setzt. Und sein Widersacher Kron war auch spannend, weil er so facettenreich ist. Dass er alleinerziehender Vater war, ist zum Beispiel ein interessantes Detail, das nicht zum allgemeinen Bild dieser Figur passt.

Von Vätern und Töchtern

Wiebke: Es gibt mehrere Vater-Tochter-Beziehungen in diesem Buch. Schaller, der Schläger mit Gedächtnisverlust, zum Beispiel beschließt sich in seinem neuen Leben an jedem Tag erneut als guter Mensch zu beweisen. Das nimmt er sich für seine Tochter Miriam vor. Scheinbar hat es seine Tochter geschafft sich aus dem sozialen Milieu herausarbeiten, in dem sie groß wurde. Sie lebt inzwischen in Berlin und studiert.

Amira: Schaller ist eine sehr unsympathische Figur. Das drückt sich auch in dem Namen – das Tier – aus, den ihm die Nachbarn geben. Dass die Tochter so ein guter, moralischer Mensch sein soll, ist ein bisschen unglaubwürdig. Wie konnte sie solch ein Engel werden, wenn sie so einen Vater hat?

Wiebke: Wir erfahren von Miriam aber immer nur aus der Perspektive von Schaller selbst. Das ist keine objektive Beschreibung. Gombrowski hat auch eine Tochter – Püppi, die in Freiburg promoviert. Sie hat den Kontakt zu ihrem gewalttätigen Vater abgebrochen. Ihre Eltern finanzieren sie allerdings weiterhin. Gombrowski empfindet Püppi als undankbar und arrogant. Er wäre lieber der Vater von Betty – der Tochter seiner Freundin Hilde – die ist eher nach seinem Geschmack.

Im Gegensatz dazu hat sein Widersacher Kron genau diese Vision für seine Enkelin. Er wünscht sich für sie, dass sie eines Tages ein besseres Leben fern vom Dorf führt. Dafür möchte er ihr eine gute Ausbildung ermöglichen und hofft, dass die nächsten Generationen ihre Herkunft und alle damit verbundenen alten Konflikte vergessen. Das was Gombrowski mit Püppi bereits erreicht hat und bedauert, wünscht sich Kron für seine Familie. Allerdings hat er das im ersten Anlauf mit seiner Tochter nicht geschafft. Sie hat studiert und kam für ihren Vater ins Dorf zurück.

Im Epilog wird beschrieben, dass die Enkelin, so wie ihr Großvater zuvor, im Forsthaus leben möchte. Darin liegt eine Tragik, die sich durch das ganze Buch zieht. Die Protagonisten wünschen sich ständig etwas für eine nahestehende Figur, aber niemand erfüllt es. Denn diese Wünsche werden oft missverstanden und schließlich halten sich die Figuren selbst gefangen beim Versuch es anderen recht zu machen.

Amira: Die Geschichten der Töchter zeigen auch, dass Frauen es eher mal schaffen rauszukommen, das Dorf hinter sich zu lassen und sich zu weiterzuentwickeln. Das Dorf, in dem ich aufgewachsen bin, ist vielleicht so ein Beispiel. Jedenfalls waren es dort eher die Töchter, die weggegangen sind, um etwas ganz Neues zu beginnen. Im Roman wäre es interessant gewesen, einen Sohn im Vergleich zu sehen.

Wiebke: Mir fällt dazu noch Karl, der Indianer, ein. Er ist wahrscheinlich aus dem Dorf, aber die Figur wird nicht erklärt. Er spielt für das Dorfleben keine wesentliche Rolle und wird als Sonderling geduldet. Die Autorin hat eher die Frauenbiografien herausgearbeitet. Es gibt keinen Vergleich zu einem Sohn, der ein Erbe übernommen hat oder von dem erzählt wird, dass er weggegangen ist. Kron und Gombrowski sind zwar Söhne, die schwer an ihren Familiengeschichten tragen, aber in der nächsten Generation gibt es kein Äquivalent.

Amira: Es gibt viele Frauenschicksale in diesem Buch. Es gibt zwar auch die großen Männer, doch die Frauen machen es erst richtig vielschichtig. Es gibt eine Stelle an der Gombrowski über die Bedeutung der Frauen in seinem Leben nachdenkt:

Trotzdem liebte Grombrowski seine Frauen, jede einzelne, so verschieden sie waren. Männer besaßen keine Persönlichkeit, sie waren alle gleich. Wer echtes Leben wollte, musste sich mit Frauen umgeben.

Vgl. „Unterleuten“, S. 312.

Mit Frauen ist Entwicklung möglich, mit ihnen umgibt er sich gerne. Das ist wieder eine Seite am Gombrowski, die ihn doch zu einer meiner Lieblingsfiguren gemacht hat.

Wiebke: Eine Hassliebe. Er ist auch ein gewalttätiger Vater und Ehemann. Gombrowski ist ein fatalistischer Charakter und Machtmensch.

Amira: Und in seiner Denkweise ist seine Geschichte auch wiederum sehr traurig. Es ist wie immer in diesem Buch, wenn die Figuren ihre Perspektiven erzählen, gewinnen wir sie doch lieb. Wir können ihre Beweggründe nachvollziehen. Gombrowski will immer das Beste für das Dorf. Er möchte allen Jobs und Perspektiven eröffnen. Er reißt sich ein Bein aus, um das Land zusammenzuhalten. Aber alle jammern nur und niemandem kann er es recht machen.

Motiv: Selbstoptimierung

Wiebke: Es gibt noch ein anderes Motiv, das mich interessiert hat, da ich darin unsere Generation wiedergefunden habe. Es ist die Szene, wenn Pilz den Windpark präsentiert. Es ist die Stelle:

Was diese Generation verband, war der unbedingte Wunsch alles richtig zu machen, keinen Fehler zu machen und damit unangreifbar zu sein.“

Vgl. „Unterleuten“, S. 151.

Ähnliche Stellen gibt es bei Linda Franzen. Sie nutzt das Buch eines Selbstoptimierung-Gurus als Entscheidungshilfe. Zwischen Pilz und Franzen habe ich eine Verbindung gesehen. Ich glaube, das sind aktuell sehr verbreitete Motive: Effizienz und Fehlerfeindlichkeit.

Amira: Klar, es gilt das Beste aus uns rausholen. Es heißt „Ressourcen nutzen”. Wir machen Yoga und achten auf die Work-Life-Balance. Das ist ein Phänomen. Pilz ist zwar sehr jung und hat keine Lebenserfahrung, aber er ist professionell oder gefühlslos. Er schafft es die Reaktion des aufgebrachten Publikums nicht auf sich zu projiziert. Er ist vollkommen distanziert. Seine Motive werden nicht erklärt. Macht er das, weil erneuerbare Energien eine gute Sache sind? Macht er das für Geld? Wir kennen seine Motivation nicht. Was lässt ihn so abgebrüht sein? Aber würdest du dich damit einschließen? Ich dachte, dass für unsere Generation Geld weniger entscheidend ist und wir eher sinnstiftende Ziele verfolgen.

Wiebke: Ich würde es auch so einschätzen, dass Geld eine geringere Rolle spielt und andere Karrierewege interessant sind. Aber mir ist kontinuierlich ein Leistungsdruck begegnet und ich merke, dass ich das verinnerlicht habe. Auch wenn ich dem nie gerecht geworden bin. Durch Zentralabitur und das Bachelor-Master-System im Studium war alles durchgetaktet. Ständig gab es das nächste Ziel vor Augen. Es gibt Regelstudienpläne, die erfüllt werden sollen und die kontrolliert werden – Meilensteine wie im Job. Falls die Bürokratie nicht erfüllt wird, muss eine Extrarunde gedreht werden. In diesen idealen Plänen gibt es keine Zeit für Fehler oder Zweifel.

Diesen Anspruch habe ich auch bei anderen Studierenden beobachtet und das ging quer durch alle Disziplinen. Es macht perfektionistisch und unkreativ – das sind zwei Eigenschaften, die es erschweren mit den Widrigkeiten des Lebens umzugehen. Die Frustrationstoleranz ist sehr niedrig. Daran musste ich denken, als ich von Franzen und Pilz las. Sie sind nicht monetär getrieben, sie haben auch keine politischen Ziele. Franzen zumindest verfolgt ein individuelles Ziel und ist damit sehr egozentrisch.

Mit etwas Überwindung ein super Buch

Amira: Es hat mir sehr viel Spaß gemacht, das Buch zu lesen. Wir hatten zwar beide zu Beginn einen Hänger, aber die Handlung und die Charaktere sind spannend. Die Geschichte bekommt so eine Dynamik. Zu Beginn werden die Figuren eingeführt und alles fühlt sich ganz bequem an. Aber als schließlich der Windpark vorstellt wird, droht alles zu eskalieren.

Wiebke: Das ist genau die Stelle, an der ich beim ersten Lesen meinen inneren Widerstand überwinden musste. Hier wurde mir klar, dass ich mich mit diesen Konflikten auseinandersetzen müsste und es lagen noch so viele Seiten vor mir. Das hätte ausufernd und anstrengend werden können. Es gibt diese zahlreichen Verstrickungen, die über die Generationen hinweg weitergegeben werden, darauf musste ich mich einlassen – und dann wurde es spannend!

Amira: Die Verstrickungen sind aber auch etwas Besonderes: Unsere Generation – wir beide sind da völlig miteingeschlossen – zieht alle zwei Jahre um. Wir kennen die Geschichten, der Orte an denen wir Leben, gar nicht mehr. Es wäre schön, das zu ändern.


Ich habe diese Ausgabe gelesen:
Juli Zeh: Unterleuten, 14. Auflage (Erstauflage 2016), btb Verlag, München 2017.

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