„Die vierzig Geheimnisse der Liebe“ von Elif Shafak hat mir eine Freundin empfohlen. Wir haben es nun gemeinsam gelesen.
Ella hat sich im Alltag mit Familie verloren und nimmt einen neuen Job als Literaturgutachterin an. Wie sollte es anders kommen – der erste Auftrag stellt ihr Leben auf den Kopf. Sie widmet sich einem Roman, der die spirituelle Beziehung des Wanderderwischs Schams und des Sufi-Dichters Rumi thematisiert und dabei 40 Geheimnisse der Liebe teilt. Während dieser Arbeit verliebt sie sich in Aziz, den Autor des Romans.
Ella liebt Aziz. Schams liebt Rumi. Und andersherum – das ist hier Programm. Damit meine ich diese Verbindungen zwischen Figuren, auch über Jahrhunderte hinweg. Dieses Wechselspiel zieht sich durch den ganzen Roman.
Es beginnt schon auf der formalen Ebene, da es einen Roman im Roman gibt und es geht so weit, dass dem fiktiven Autor Aziz Ähnlichkeit mit der historischen Person Schams-e Tabrizi zugesprochen wird. Dieser Beziehung verleiht der Autor durch eine literarische Figur in seinem Werk Ausdruck. Bezüge, wo man hinschaut.
Zu Beginn ist es mir recht schwergefallen, mich auf die Geschichte einzulassen. Der Charakter der Protagonistin Ella war mir zunächst unsympathisch und voller Klischees. Ich hatte den Eindruck, dass das Buch nichts für mich ist. Das hat sich aber im Verlauf der Lektüre geändert, da sich Ella weiterentwickelte und die Figur damit an Komplexität gewann und zugänglicher wurde. Besonders das Ende hat mich berührt.
Auch der Austausch mit der Freundin war wichtig, um noch eine andere Perspektive auf die Geschichte zu bekommen. Das Buch werde ich nun an die nächste Leserin weitergeben.
„Die vierzig Geheimnisse der Liebe“ ist das erste Buch, das ich von Elif Shafak gelesen habe. Ich ahne, dass ich noch weitere Bücher von ihr lesen muss. Denn mich interessiert nun der Zusammenhang dieses Romans zum Gesamtwerk. Daher habe ich nun als literarische Klammer „Der Bastard von Istanbul“ und „Schau mich an“ auf meine Leseliste gesetzt.
Surie ist 57 und schwanger. Damit hat sie nicht mehr gerechnet. Sie hat Angst dem Ansehen der Familie zu schaden. Und sie trauert noch, um ihren Sohn. Sie steckt in einem Dilemma. Ihre Lösung: Die Schwangerschaft muss geheim bleiben. Auch vor ihr selbst. Die 10-fache Mutter ignoriert lange alle Zeichen. Ihre Welt ist aus dem Gleichgewicht. Schließlich ist sie seit 40 Jahren glücklich verheiratet. Doch nun fehlen dem Paar die Worte. Surie lebt mit ihrer Familie in einer chassidischen Gemeinde in Brooklyn. Nun beginnt sie sich zu emanzipieren.
Mir hat der einfühlsame Erzählstil von Goldbloom und die differenzierten Charakterzeichnungen ihrer Figuren gefallen. Sie erzählt die Geschichte einer Frau, die einen Weg finden möchte ihre Gemeinschaft zu gestalten. Surie denkt nicht darüber nach ihr Leben zu verlassen, sondern möchte es positiv verändern – auch wenn das nicht einfach ist.
Für den Roman „Eine ganze Welt“ bekam Goldie Goldbloom den Jewish Fiction Award 2020. Die Geschichte war für mich besonders vor dem Hintergrund sehr spannend, da ich in verschiedenen Artikeln las, dass die Autorin selbst als queere Chassidin lebt und sich in der LBGT-Bewegung engagiert.
Das Buch habe ich in Ergänzung zu „Unorthodox“ gelesen. Der Plot von „Eine ganze Welt“ ist bewegend und es wird nichts beschönigt. Themen wie Suizid, Missbrauch und Homophobie kommen vor. Der Roman wirkt noch eine Weile nach. Eine große Empfehlung von mir.
Möchte ich Mutter sein? Wie fühlt es sich an, wenn die biologische Uhr tickt? Oder sind es nur die Erwartungen von Familie und Freund:innen, die ich fühle? Möchte ich Mutter sein, weil scheinbar alle ein Kind bekommen? Bin ich erst eine Frau, wenn ich Mutter bin? Werde ich es später bereuen, wenn ich kein Kind bekomme? Meine Partner:in möchte eine Familie. Wie sieht unsere Zukunft aus? Könnte ich eine gute Mutter sein? Diesen inneren Monolog kennen viele. Er geht noch viel weiter.
Die namenlose Protagonistin in Linn Strømsborgs Roman „Nie, nie, nie“ will keine Mutter werden – niemals. Diese Prämisse für einen Roman hat mich neugierig gemacht. Die Autorin widmet dem Für- und Wider, um das komplexe Thema Mutterschaft ihren Roman und zeigt vielfältige Frauenbilder und Lebensmodelle.
Wir folgen der Ich-Erzählerin in ihren Gedankengängen – erfahren, weshalb sie keine Kinder haben möchte und lesen welchen Erwartungen und Bewertungen sie daher von Fremden, Familie, Partnern und Freund:innen ausgesetzt ist und wie sie sich dazu positioniert. Neben der differenzierten Darstellung der Gründe für ein Leben ohne Kinder, haben mir am besten die Beschreibungen der Großmütter und Mütter in ihrem Umfeld gefallen, die ihre Rolle jeweils recht unterschiedlich leb(t)en. Dynamik kommt in die Handlung als die beste Freundin schwanger wird und sich in ihre neue Rolle als Mutter einfindet.
Von den Protagonist:innen war ich oft genervt, was aber reizvoll war. Auch wenn mir die Handlungen der Figuren nicht immer sympathisch waren, sind sie doch nüchtern und schlüssig charakterisiert. Als Leserin konnte ich zu den Figuren eine Beziehung aufbauen und war ganz in die Geschichte versunken.
Auch wenn mir der Roman insgesamt gut gefallen hat, zum Schluss hat er mich dennoch etwas ratlos zurückgelassen. Es hat für viele Romane seine Berechtigung das Ende mit einem Fragezeichen zu beenden. Schließlich ist Literatur nicht dafür da, uns die Welt abschließend zu erklären. Doch hier empfinde ich das Ende als unpassend, sofern es im Roman darum gehen sollte die bewusste Entscheidung gegen Kinder als einen von vielen gleichwertigen Lebensentwürfen zu zeigen. So habe ich die Geschichte jedenfalls interpretiert und daher hätte ich mir das letzte Kapitel aus der Perspektive des Ex-Partners gerne gespart.
Ich finde den Roman wichtig, weil er dem Thema gewollte Kinderlosigkeit nuanciert begegnet. Denn es ist – wie so oft – nicht einfach. Strømsberg zeigt, dass diese Entscheidung ein Prozess ist und ein Ringen mit sich selbst sein kann.
„Das Lied der Arktis“ ist mein Lektüre-Liebling 2021. Es beginnt damit wie die junge Uqsuralik in der Kälte ums Überleben kämpft, als sie von ihrer Familie getrennt wird.
Selten hat mich in letzter Zeit ein Roman so sehr in den Bann gezogen. Ich war als Leserin dabei – an einem Ort mit Jahreszeiten, aber ohne Jahreszahl – und habe die Schönheit der Natur und ihre Grausamkeit gesehen. Ich durfte die Kultur der Inuit kennenlernen: ihre nomadische Lebensweise, ihren Glauben, ihre Musik, ihre Poesie.
Der Roman zeigt einen anderen Blick aufs Leben. Glücksfaktoren unserer westlichen, industriellen Welt wirken im Kontrast seltsam. Ein optimiertes Leben in Perfektion und ohne Schwierigkeiten? Macht das ein gutes Leben aus?
„Das Lied der Arktis“ ist ein Buch für Verstand und Gefühl. Bérengère Cournut forschte 7 Jahre lang zur Kultur der Inuit, bevor sie diesen Roman im Stil des Nature Writing schrieb. Das Buch ist von diesem Wissen durchdrungen. Die Geschichte ist authentisch und liebevoll erzählt. Aus dem Französischen übersetzt von Stefanie Jacobs.
Hinten im Buch gibt es einen Fototeil. Für die Datierung der Bilder kann ich meine westlichen Maßstäbe wieder nicht anwenden. Die Bilder gehören in ein unbestimmtes Gestern. Im Heute und Morgen ist diese Welt vom Klimawandel bedroht.
Was wäre wenn… Eine Entwicklungsgeschichte im Multiversum
Diesmal habe ich mit Literaturbloggerin Jule über den Bestseller „Die Mitternachtsbibliothek“ von Matt Haig gesprochen. In unserer Buchbesprechung geht es darum, wie wir Entscheidungen fällen und ob wir etwas bereuen. Wir sprechen über den Umgang mit Depressionen, Existenzphilosophie und die beste aller Welten.
Wir sprechen über das ganze Buch. Falls Ihr den Roman noch lesen möchtet, überlegt Euch also, ob Ihr das Gespräch lesen mögt.
Wer liest?
Jule studiert Philosophie. Das ist ein praktischer Zufall. Schließlich ist die Romanheldin aus „Die Mitternachtsbibliothek“ ebenfalls Philosophin mit einer Vorliebe für existenzialistische Zitate. Jule schätze ich für ihre nachdenklichen und ehrlichen Texte. Auf ihrem Blog gibt es Buchtipps zu philosophischen Themen und Gegenwartsliteratur. (Hier geht’s zur Rezension auf Jules Blog.)
Zusammenfassung des Romans
Die Botschaft des Romans ist lebensbejahend. Doch beginnt er sehr dramatisch. Protagonistin Nora ist schwer depressiv und sie beschließt zu sterben. Plötzlich findet sie sich in der Mitternachtsbibliothek wieder. Einem Ort zwischen Leben und Tod, an dem sie dem Multiversum begegnet. Dort sind all die Leben in Büchern gesammelt, die sie nicht geführt hat. Nun bekommt Nora die Gelegenheit, diese Leben auszuprobieren. „Was wäre wenn“-Szenarien sind für viele von uns nette Gedankenspiele. Doch die depressive Nora bereut ihre wichtigsten Entscheidungen und sieht ihr Leben als Ausdruck verpasster Chancen. In der Mitternachtsbibliothek darf sie sich nun ein Leben wählen, das zu ihr passt. Wir Leser:innen begleiten sie auf dieser Suche. Sie ist mal Rockstar, Olympia-Schwimmerin, Gletscherforscherin und vieles mehr. Für welches Leben sie sich entscheidet, müsst Ihr selbst herausfinden. (Meine Rezension zum Buch gibt es hier.)
Gefällt’s?
Wiebke:Du hattest das Buch schon Anfang des Jahres entdeckt. Wie bist Du auf diesen Roman aufmerksam geworden?
Jule:Ich habe das Buch bei Instagram gesehen. Mich hat die Buchvorstellung von Anne von Fuxbooks neugierig gemacht.
Wiebke: Inzwischen ist auch die deutsche Ausgabe ein Bestseller. Mir haben Freundinnen das Buch empfohlen. Hat Dir das Buch gefallen?
Jule:Ich erinnere mich, dass der Roman einmal als Wohlfühl-Buch beschrieben wurde. Dieses Genre lese ich eher selten, weil ich nicht zum „Wohlfühlen“ lese. Die Geschichte war aber leicht und gut zu lesen und die Quintessenz finde ich auch wichtig. Aber ich hatte hin und wieder meine Schwierigkeiten mit dem Roman. Einiges war mir zu einfach erzählt.
Wiebke: Eine Geschichte mit wichtiger Botschaft, aber mit ungenutztem Potential. Also ein interessanter Aufhänger für unser Gespräch. Dann sprechen wir doch über die Stärken und die Schwächen des Romans.
Die Sache mit der Depression
Wiebke:Nora will sich das Leben nehmen, das ist ein harter Einstieg für ein Wohlfühl-Buch. Der Suizidversuch ist der Ausgangspunkt für die Geschichte. Ich hatte schon in meiner Rezension geschrieben, dass ich das Buch wie ein Märchen gelesen habe. Ich denke die Krankheit und der Weg aus der Depression ist zu einfach beschrieben. Wenn jemand diese Geschichte liest und noch wenig Kenntnisse über die Krankheit hat, verzerrt es den Blick darauf und bestätigt vielleicht vorhandene Vorurteile. Man sollte das Buch nicht mit dem Anspruch lesen, dabei zu erfahren wie die Perspektive von Erkrankten ist oder wie die Genesung gelingt. Ich wünsche mir ein fundiertes Vorwort für eine Neuauflage, damit die Geschichte nicht im leeren Raum stehen bleibt. Aber aus der Perspektive eines Märchens war es für mich leicht und positiv geschrieben und eine schöne Wochenend-Lektüre.
Jule:Bis ich Deine Rezension gelesen habe, ist mir dieser Aspekt gar nicht aufgefallen. Aber ich stimme Dir zu. Ich habe mich gefragt, weshalb ich das nicht so kritisch gesehen habe. Es liegt wohl daran, dass die Geschichte das Thema romantisiert und weit von der realistischen Beschreibung einer Depression entfernt ist. Noras Wahrnehmung hat mich eher an eine generelle Unzufriedenheit im Leben erinnert. Sie hatte aber nichts mit den Erfahrungen zu tun, die ich persönlich im Kontakt mit erkrankten Mitmenschen gemacht habe. Daher hatte ich mich auf andere Aspekte der Geschichte fokussiert.
Wiebke: Während der Lektüre ging es mir genauso. Mir kam der Gedankengang erst im Nachhinein, als ich mich für die Rezension mit meinem Leseeindruck auseinandergesetzt und mich mit anderen Leser:innen ausgetauscht habe. Der Suizidversuch wird nicht konkret beschrieben. Nora landet recht unvermittelt in der Mitternachtsbibliothek.
Jule:Es ist so, als würde sie sich schlafen legen und wacht dort wieder auf.
Wiebke: Die Themen Depression und Suizid sind im Roman omnipräsent, da sie die Grundlage für die Geschichte bilden. Gleichzeitig kann man das Thema überlesen – so wie Du es beschreibst. Das ist doch interessant. Weshalb ist das so? Der Autor musste eine außergewöhnliche Möglichkeit kreieren, in der Nora den Paralleluniversen begegnet. Beim Kaffeekochen passiert so etwas bestimmt nicht. Die Nahtod-Erfahrung hat er daher als Ausgangspunkt verwendet, um ihre Entwicklung anzustoßen. Wenn der Suizidversuch dramatisch geschildert worden wäre, hätte ich das Buch weggelegt. Da es aber weichgespült war, konnte ich mich auf die Geschichte einlassen. Denn hier in der Mitternachtsbibliothek werde ich als Leserin mit den wichtigen Fragen konfrontiert: Wie beeinflussen meine Entscheidungen mein Leben? Wie wurde ich zur Person, die ich heute bin? Wie gehe ich mit meinen Entscheidungen um? Wie würdest Du den Hauptgedanken der Geschichte beschreiben?
Für mich geht es darum, dass man das eigene Leben in der Hand hat.
Jule
Jule:Für mich geht es darum, dass man das eigene Leben in der Hand hat. Man sollte daher Entscheidungen im Vorhinein abwägen und sich mögliche Handlungen und deren Konsequenzen überlegen. Selbst wenn schwierige Situationen auf mich zukommen, entscheide ich mich am Ende doch selbst für das, was passiert – und das muss ich akzeptieren. Zum Schluss ist die Geschichte vielleicht auch eine Aufforderung, manches einfach etwas leichter zu nehmen.
Wiebke:Das habe ich darin auch gesehen. Ein Appell sich zusammenzureißen. Ich denke, damit kann man sich ruhig konfrontieren. Aber eignet sich das als Rat für Depressive?
Jule: Gesunden Menschen kann es bestimmt helfen wachgerüttelt zu werden. Da sich negative Denkmuster mit der Zeit festigen, ist es vielleicht eine Technik, die Depressiven in Teilen ebenfalls helfen könnte, um eine andere Perspektive einzunehmen. Aber das ist selbstverständlich nicht die Lösung des Problems. Manchmal sind Situationen nun einmal schlimm und sie verschwinden nicht einfach mit dem Motto: „Ich nehme es nicht so schwer.“
Wiebke:Der Autor hat schon mehrere Bücher über das Thema Depression geschrieben und war selbst betroffen. Matt Haig hat also Expertise. Der Roman spricht international viele Menschen an. Ich hatte mit Rike beim letzten Buchgespräch zu „Das Café am Rande der Welt“ die Vermutung aufgestellt, dass das Buch leicht daherkommt, damit sich viele Leser:innen mit diesen Themen beschäftigen.
Existenzphilosophie
Jule: Ich finde, man hätte die Geschichte schon komplexer erzählen können, auch wenn man ein breites Publikum ansprechen möchte. Die Geschichte ist eigentlich darauf angelegt. Am Anfang erfahren wir, dass Nora Philosophie mit Schwerpunkt Existenzphilosophie studiert hat. Das hat mich gleich begeistert. Aber ihre Handlungen und ihre Gespräche hatten damit wenig zu tun. Wenn man diesen Hintergrund hat, würde man doch nicht so handeln. Das hat beides für mich nicht zusammengepasst. Nora benimmt sich manchchmal kindisch und das hat mich ratlos gemacht. Nur weil der Kater stirbt und man am gleichen Tag den Job verliert, beschließt man doch nicht, dass das Leben keinen Sinn mehr hat. Auch ihre Mitmenschen waren alle nett zu ihr.
Wiebke:Sie konnte das nicht erkennen, weil sie depressiv ist.
Jule:Vielleicht. Aber das liegt bestimmt auch am Stil. Ich finde beispielsweise, dass die Figuren viel zu freundlich gezeichnet sind. Das waren keine authentischen Dialoge.
Wiebke:Die Charakterisierungen sind ziemlich stereotyp und Noras Gedanken über Personen und Situationen sind nicht so differenziert, wie man sie von einer Philosophin vermuten würde. Da gebe ich Dir recht.
Jule:Es werden Zitate von Existenzphilosophen eingeflochten, die mir alle gefallen haben. Ich würde jedoch nicht behaupten, dass man davon verstanden hätte, wie das Leben gelingt. Das ist schon komplexer. Ich hatte letztes Semester ein Seminar zum Thema Existenzphilosophie. Es ging um Fragen wie „Was ist Existenz?“, „Was ist Freiheit?“. Dadurch verändert man die eigenen Perspektiven und Handlungen. Das vermute ich erst recht, wenn man ein ganzes Studium zu diesem Thema abschließt.
Wiebke:Ist man denn als Philosophin vor Depressionen geschützt? Ich bin jetzt Advocatus Diaboli: Wenn man sich mit existenzialistischen Schriften beschäftigt, könnte das doch depressiv machen.
Jule:Wenn man in den Nihilismus abdriftet, dann auf jeden Fall.
Wiebke:Um bei der Existenzphilosophie zu bleiben: es ist eine große Verantwortung, wenn man sich jeden Tag aufs Neue beweisen muss. Man hat keinen Kredit. Wenn man einen schlechten Tag hat, denkt man vielleicht einfach: „Ich bleibe besser liegen, dann kann ich nichts falsch machen.“
Jule:Ich glaube, das geht uns doch allen manchmal so. Wie hast Du die Rolle der Philosophie im Buch gelesen?
Wiebke:Mich hat schon irritiert, dass sie entgegen ihrer eigenen Philosophie handelt. Ich finde es gut, dass Du auf diese Diskrepanz hingewiesen hast. Aber mich hat es nicht so stark gestört. Ich habe mich viel eher gefragt, wer damit erreicht werden soll. Es wird doch viel vorausgesetzt, oder? Denn mich würde interessieren, wie die Stellen gelesen werden, wenn für jemanden Existenzphilosophie Neuland ist. Wie werden die Zitate interpretiert, wenn man ihren Kontext nicht kennt?
Jule:Meinst du, dass die Zitate als Beweis für Noras Kenntnisse vom Autor gebraucht werden? Es stellt sich die Frage, ob alle Leser:innen Sartre oder Camus kennen.
Wiebke:Das zuallererst. Falls die Leser:innen sie nicht kennen, wissen sie zwangsläufig nicht, wofür die Zitate stehen. Sind die Zitate so repräsentativ gewählt, dass man sie ohne den Kontext verstehen kann? Das ist ein generelles Problem mit Zitaten.
Warum bereuen wir etwas?
Wiebke:Mich hat das Thema der Reue sehr angesprochen. Ich habe mich gefragt, ob ich etwas bereue. Auch wenn nicht alles super war, würde ich sagen: nein, ich bereue nichts. Es ist alles Teil meines Lebens und meiner Entwicklung. Wie würdest Du das beantworten?
Jule:Es gibt eine Sache, die dem Gefühl der Reue nahekommt. Aber prinzipiell würde ich sagen: nein.
Wiebke:Ich hatte bei Instagram eine kleine Umfrage gestartet. Das ist selbstverständlich nicht repräsentativ. Aber das Ergebnis war dennoch spannend, da es sehr gemischt war. Die Hälfte hat angegeben etwas zu bereuen. Scheinbar beschäftigt das Thema doch einige Menschen und nicht alle antworten darauf, wie wir beide gerade.
Ich denke, es liegt unter anderem an der Distanz, die man zu einem Thema noch nicht gefunden hat.
Jule
Jule: Ich denke, es liegt unter anderem an der Distanz, die man zu einem Thema noch nicht gefunden hat. Vielleicht liest man diesen Roman gerade aus dem Grund, weil man aktuell etwas bereut und noch nicht damit abgeschlossen hat.
Wiebke:Nicht alles, was wir bereuen, hätten wir auch wirklich verbessern können. Manchmal fühlen wir uns verantwortlich für Dinge, die wir nicht in der Hand haben. Hierzu habe ich mir ein Zitat der Bibliothekarin Mrs Elm notiert. Nora hat in der Passage gerade realisiert, dass ihr Kater ohnehin an jenem Tag gestorben wäre, gleichgültig ob sie ihn vor die Tür gelassen hätte oder nicht.
„Siehst du? Manche Reuegefühle basieren überhaupt nicht auf Fakten. Manchmal sind Reuegefühle nur…“ Mrs Elm suchte nach dem richtigen Begriff und fand ihn schließlich, „…ein Haufen Scheiße.“
Die Mitternachtsbibliothek, S. 82.
Das Zitat ist simpel. Aber es zeigt zwei Seiten der Reue. Sie kann sinnvoll sein. Schließlich können wir fatale Fehler begangen haben und damit müssen wir einen Umgang finden. Manchmal steht uns das Reuegefühl aber einfach unnötig im Weg und hält uns in unseren Gedanken gefangen.
Wir können nicht die Entscheidung und deren Konsequenzen ändern, sondern nur unsere Einstellung dazu.
Wiebke
Am Anfang bereut Nora ihre verpassten Chancen. Sie sieht sie als Fehlentscheidungen. Später ändert sie ihre Einstellung und schließt Frieden damit. Wir können nicht die Entscheidung und deren Konsequenzen ändern, sondern nur unsere Einstellung dazu. Ich selbst denke, dass meine Entscheidungen, in dem Moment einen guten Grund hatten – auch wenn das nicht zwangsläufig zu einem guten Ergebnis geführt hat.
Jule:In dem Moment hast du nach bestem Wissen und Gewissen entschieden. Das erinnert mich an die Lehre von Leibniz, die mich im Philosophie-Studium sehr berührt hat. Es geht um die Theodizee – also um den Bereich in der Philosophie, der sich mit der Gerechtigkeit Gottes beschäftigt und Antwort auf die Frage sucht, weshalb es – sofern es einen allmächtigen und guten Gott gibt – dennoch Böses auf der Welt gibt. Bei Leibniz heißt es, dass wir in der besten aller möglichen Welten leben und dass das Böse darin daher aus einem Grund existiert. Daran musste ich bei der Lektüre dieses Buches denken, schließlich hat jedes Leben, das Nora wählt, immer einen Haken. Ich denke, das ist für mich auch eine Kernaussage des Buchs: So wie es gekommen ist, hat es schon seine Berechtigung. Schließlich konntest Du nicht anders entscheiden, denn Du wusstest damals nicht, was Du jetzt weißt.
Vielleicht kennt ihr bereits die gleichnamige Mini-Serie, die 2020 bei Netflix erschien. Es handelt sich dabei um eine Adaption des autobiographischen Romans „Unorthodox“ von Deborah Feldman. Die Serie ist vom Buch nur inspiriert. Beide stehen eigenständig für sich selbst. Als ich letztes Jahr den Trailer sah, hatte ich vom Buch bereits gehört und die Geschichte machte mich neugierig. Mir gefiel die Bildsprache des Trailers und ich erlag dem Reiz einer unbekannten Kultur. Ich wollte mehr wissen. Die Verfilmung war beeindruckend, daher habe ich mich nun an die Lektüre der Buchvorlage gemacht. Ein starkes Buch, eine starke Verfilmung. Mir hat beides viel gegeben.
„Unorthodox“ wird als Enthüllungsbuch bezeichnet, da die Autorin ihre Erlebnisse in einer geschlossenen, religiösen Gemeinschaft mit der Öffentlichkeit teilt und sie kritisch hinterfragt. Ich habe das Buch vor allem als die ergreifende Autobiographie einer Frau meiner Generation gelesen. In entwicklungspsychologischer Hinsicht gelingt die Identifikation mit der Erzählerin sehr gut, doch findet diese Entwicklung in einem repressiven Umfeld statt. Ich war immer wieder darüber schockiert, welche Erfahrungen Feldman machte und wie unfrei sie erzogen wurde. Dieses Buch hat mir meine Privilegien wieder einmal vor Augen geführt.
Im Kontrast zur bitteren Realität der Handlung steht die innere Stärke und Haltung der Autorin. Dies macht die Geschichte von Deborah Feldman für mich so faszinierend. Sie berichtet über ihr Leben in einer ultraorthodoxen jüdischen Gemeinde der Satmarer in New York. Hineingeboren in eine chassidische Familie bestimmen religiöse Regeln ihr Leben, sie fühlt sich eingeengt und nicht zugehörig. Für Frauen lässt ihr Umfeld nur den Lebensentwurf der devoten Ehefrau und Mutter zu und innerhalb dieser Rolle gibt es keinen Raum für Individualität oder Selbstverwirklichung. Im Laufe der Jahre entfernt sich Feldman langsam von den strengen Werten und Normen. Mit Mitte zwanzig beschließt sie in ein unabhängiges Leben außerhalb ihrer Glaubensgemeinschaft aufzubrechen. Von dieser Entwicklung erzählt Feldman eindrucksvoll in ihrem Roman.
Die traditionelle Welt, in der die New Yorkerin aufwächst, scheint fast zeitlos zu sein. Obwohl Rauchwolken den Himmel verdunkeln, erreicht sie am 11. September 2001 die Nachricht von den Terroranschlägen wie aus einer anderen Welt. Dieses Ereignis und das gelegentliche Aufblitzen von Popkultur sind zeitliche Markierungen aus weiter Ferne. Bücher, Musik und Mode stehen für eine fremde Welt, nach der sich die junge Frau sehnt.
Bücher haben eine wichtige Bedeutung für Feldman. Die Mehrheit an Literatur ist ihr verboten, doch sie liest trotzdem. Bücher sind ständig ein Thema. Mal werden sie heimlich gelesen, mal schmerzlich vermisst. Sie sind das Tor zu einer anderen Welt, vermitteln neue Ideen und ermöglichten es ihr eine weitere Sprache zu lernen. Beeindruckend ist auch ihr Mut, mit dem sie Chancen ergreift. Mit jedem Buch und jeder Begegnung emanzipiert sie sich und der Glaube an ihre eigene Selbstwirksamkeit wächst. Bildung ist der Schlüssel zu ihrem neuen Leben.
Die Geschichte ist psychologisch klug erzählt. Ich konnte mich in die Protagonistin sehr gut einfühlen und auch die weiteren Personen sind empathisch beschrieben. Zwar teilt die Autorin nicht jede dieser Meinungen oder heißt deren Verhalten gut, doch kann sie andere Perspektiven und Lebensentwürfe plausibel vermitteln. Dabei zeigt sie das Dilemma auf, in das Menschen geraten können.
Die feinfühlige Erzählung von Feldman und die Einblicke, die sie in die Lebensart der chassidischen Glaubensgemeinschaft mit ihren Regeln und Traditionen gewährt, hat das Buch für mich zum echten Pageturner gemacht. Auch wenn Feldmans Jugend, mit ihren vollkommen anderen Erfahrungen, auf mich fremd wirkt und traurig macht, erzählt sie zugleich eine Geschichte über Emanzipation und die Suche nach einem authentischen Leben – und das ist uns wohl allen sehr vertraut.
Mein Fazit: Eine bewegende Geschichte. Unbedingt lesen!
Ich habe diese Ausgabe gelesen: Deborah Feldman: Unorthodox, (engl. Erstausgabe 2012), 6. dt. Aufl., Secession Verlag für Literatur, Zürich 2016.
Amira und ich sprechen über einen modernen Gesellschaftsroman. Im Jahr 2016 erschienen, hat sich der Roman „Unterleuten“ von Juli Zeh inzwischen zur Pflichtlektüre entwickelt. Scheinbar haben ihn schon alle gelesen. Mir haben Freundinnen jedes Mal berichtet, wie entsetzt sie vom Ende waren. Das hat mich neugierig gemacht. Die Lektüre fühlt sich wie ein unerträglicher Mückenstich an. Wir jucken, bis es blutet. Das ist zwar unangenehm, aber gleichzeitig sehr befriedigend. Amira und ich reden über Vater-Tochter-Beziehungen, große Egos, Perfektionismus und den Wunsch über persönliche ostdeutsche und westdeutsche Biografien zu sprechen – da es 30 Jahre nach der Wiedervereinigung, um mehr geht als Stereotype.
Wer liest?
Amira arbeitet am Theater und sie zieht ganz gern um – das haben wir gemeinsam. Vielleicht ist ihr Ziel einmal in allen Bundesländern gelebt zu haben – das bleibt ihr Geheimnis. Nach Stationen in Sachsen und Sachsen-Anhalt wohnt sie jetzt irgendwo in Bayern.
Das hat uns bewegt
Wiebke:Gut, dass wir über die Geschichte sprechen. Mich hat sie etwas verwirrt – oder sogar verstört – zurückgelassen. Warum hast du dir den Roman „Unterleuten“ ausgesucht? Was hat dich an der Geschichte besonders angesprochen?
Amira:Da ich selbst einige Jahre in Ostdeutschland gelebt habe, hat mich das Setting gelockt. Schlussendlich hat sich herausgestellt, dass der Roman keine „ostdeutsche“ Geschichte erzählt. Sie hätte in großen Teilen auch von einem westdeutschen Örtchen handeln können. Aber die regionalen Bezüge – z. B. zur DDR-Geschichte oder der große Kontrast zwischen der nahen Hauptstadt und dem Landleben – gibt es in dieser Art selbstverständlich nur in Brandenburg. Als ich das Buch las, hatte ich gerade die Serie „Warten auf‘n Bus“ gesehen. Das Leben auf dem Land im Osten beschäftigte mich daher.
Ich finde an dem Roman die Beschreibung vom Dorfleben spannend und mich haben die ostdeutschen und westdeutschen Biografien interessiert und die Dynamik, wenn Menschen mit beiden Sozialisationen aufeinandertreffen. Diese Details reizen mich, da ich mich persönlich mit ihnen schon oft beschäftigt habe. Mein Freund kommt selbst aus Rostock. Irgendwann möchte ich gerne kapieren, was da passiert, wenn sich Menschen mit diesen Hintergründen begegnen. Das Buch hilft dabei Menschen mit ihren Schicksalen zu sehen und Stereotype zu hinterfragen. Alle haben ihren einzigartigen Lebenslauf.
Wiebke:Das Buch hast du auch ausgewählt, da du dir eine Verständnishilfe erhofft hast? Diesen Wunsch habe ich bei mir auch schon bemerkt. Wir gehören beide zur ersten Generation, die im wiedervereinten Deutschland aufgewachsen ist. Die Grenze war plötzlich weg, aber das Zusammenwachsen ist ein längerer Prozess. Denn erst mit den Jahren vermischen sich die Leben weiter miteinander und es gibt mehr Berührungspunkte. In dem Buch kommen häufiger Wünsche für die nächste Generation vor. Es geht dabei, um die Auseinandersetzung mit sich selbst, was wir weitergeben, was wir hinter uns lassen und was die Kinder besser machen sollten.
Ich habe kürzlich begonnen den Podcast „Kohlkids“ zu hören. Hier werden genau solche Themen besprochen. Scheinbar gibt es ein Bedürfnis sich auszutauschen. Wir stellen uns Fragen, darüber wie die Sozialisierung im Westen und im Osten war und wie es erlebt wird, wenn auf einmal ein System nicht mehr vorhanden ist, in dem man aufgewachsen ist. Auch wenn es hier keine abschließenden Antworten gibt, ist es doch wichtig darüber zu sprechen und zu fragen: Wie hast du das erlebt? Wie war das bei euch?
Zusammenfassung – Das Buch in 5 Sätzen
Wiebke:Um in die Geschichte einzusteigen, lass uns versuchen das Buch in fünf Sätzen zusammenfassen. Das ist bei 635 Seiten in der Taschenbuch-Ausgabe recht sportlich.
Amira:Eigentlich kann man die Geschichte doch ganz kurz erklären. Es geht um den Mikrokosmos eines Dorfes, um die Lebensläufe der Figuren und um ein Thema, das plötzlich aufkommt und aus dem alle Bewohnerinnen und Bewohner ihren persönlichen Nutzen ziehen wollen.
Wiebke:So würde ich das auch beschreiben. Ich habe mir das folgendermaßen notiert:
Die Bewohner eines Dorfs in Brandenburg sind über Generationen hinweg durch ein Netz aus Intrigen und Allianzen verbunden. Der Wechsel der politischen Systeme verändert zwar die Kulisse, doch große Egos und konträre Lebensentwürfe bestimmen das Geschehen. Als ein Windpark gebaut werden soll, vermischen sich alte und neue Konflikte. Alles eskaliert und am Ende bleibt die Frage: Was ist wirklich wichtig? Wofür sollten wir uns einsetzen? Fatalismus und die Erkenntnis, dass es keine Wahrheit gibt, bleiben zurück.
Keine Held:innen, aber bewegende Figuren
Wiebke: Dass es keine Wahrheit gibt, war für mich ein sehr eindrückliches Motiv. Alle haben ihre eigene Wahrheit. Das zieht sich durch das ganze Buch. Ich habe den Figuren immer wieder zugestimmt, auch wenn die Gedankengänge teilweise bizarr waren.
Amira:Das ging mir auch so. Zu Beginn werden wir in die Perspektiven der Figuren eingeführt. Die Positionen werden überzeugend dargestellt, so dass wir im Laufe der Zeit alle Positionen nachvollziehen können. Die Beschreibung bleibt aber immer distanziert, so dass wir keine Figur ins Herz schließen. Alle anderen Figuren haben von mir immerhin noch einen Funken Sympathie bekommen. Allein die Pferdefrau – Linda Franzen – war von Anfang bis Ende bei mir unten durch.
Wiebke:Keine der Figuren eignet sich zum Superhelden. Aber hat dich eine Figur besonders bewegt?
Amira:Am Anfang hatte der Naturschützer Fließ bei mir Pluspunkte, da er ein Öko ist. Aber beim näheren Hinsehen, kommt diese Figur in der Geschichte – so wie alle – schon zu Beginn nicht gut weg. Dann ist die Figur des Gombrowski natürlich faszinierend, da er zum Schluss den letzten Schocker setzt. Und sein Widersacher Kron war auch spannend, weil er so facettenreich ist. Dass er alleinerziehender Vater war, ist zum Beispiel ein interessantes Detail, das nicht zum allgemeinen Bild dieser Figur passt.
Von Vätern und Töchtern
Wiebke: Es gibt mehrere Vater-Tochter-Beziehungen in diesem Buch. Schaller, der Schläger mit Gedächtnisverlust, zum Beispiel beschließt sich in seinem neuen Leben an jedem Tag erneut als guter Mensch zu beweisen. Das nimmt er sich für seine Tochter Miriam vor. Scheinbar hat es seine Tochter geschafft sich aus dem sozialen Milieu herausarbeiten, in dem sie groß wurde. Sie lebt inzwischen in Berlin und studiert.
Amira: Schaller ist eine sehr unsympathische Figur. Das drückt sich auch in dem Namen – das Tier – aus, den ihm die Nachbarn geben. Dass die Tochter so ein guter, moralischer Mensch sein soll, ist ein bisschen unglaubwürdig. Wie konnte sie solch ein Engel werden, wenn sie so einen Vater hat?
Wiebke:Wir erfahren von Miriam aber immer nur aus der Perspektive von Schaller selbst. Das ist keine objektive Beschreibung. Gombrowski hat auch eine Tochter – Püppi, die in Freiburg promoviert. Sie hat den Kontakt zu ihrem gewalttätigen Vater abgebrochen. Ihre Eltern finanzieren sie allerdings weiterhin. Gombrowski empfindet Püppi als undankbar und arrogant. Er wäre lieber der Vater von Betty – der Tochter seiner Freundin Hilde – die ist eher nach seinem Geschmack.
Im Gegensatz dazu hat sein Widersacher Kron genau diese Vision für seine Enkelin. Er wünscht sich für sie, dass sie eines Tages ein besseres Leben fern vom Dorf führt. Dafür möchte er ihr eine gute Ausbildung ermöglichen und hofft, dass die nächsten Generationen ihre Herkunft und alle damit verbundenen alten Konflikte vergessen. Das was Gombrowski mit Püppi bereits erreicht hat und bedauert, wünscht sich Kron für seine Familie. Allerdings hat er das im ersten Anlauf mit seiner Tochter nicht geschafft. Sie hat studiert und kam für ihren Vater ins Dorf zurück.
Im Epilog wird beschrieben, dass die Enkelin, so wie ihr Großvater zuvor, im Forsthaus leben möchte. Darin liegt eine Tragik, die sich durch das ganze Buch zieht. Die Protagonisten wünschen sich ständig etwas für eine nahestehende Figur, aber niemand erfüllt es. Denn diese Wünsche werden oft missverstanden und schließlich halten sich die Figuren selbst gefangen beim Versuch es anderen recht zu machen.
Amira:Die Geschichten der Töchter zeigen auch, dass Frauen es eher mal schaffen rauszukommen, das Dorf hinter sich zu lassen und sich zu weiterzuentwickeln. Das Dorf, in dem ich aufgewachsen bin, ist vielleicht so ein Beispiel. Jedenfalls waren es dort eher die Töchter, die weggegangen sind, um etwas ganz Neues zu beginnen. Im Roman wäre es interessant gewesen, einen Sohn im Vergleich zu sehen.
Wiebke: Mir fällt dazu noch Karl, der Indianer, ein. Er ist wahrscheinlich aus dem Dorf, aber die Figur wird nicht erklärt. Er spielt für das Dorfleben keine wesentliche Rolle und wird als Sonderling geduldet. Die Autorin hat eher die Frauenbiografien herausgearbeitet. Es gibt keinen Vergleich zu einem Sohn, der ein Erbe übernommen hat oder von dem erzählt wird, dass er weggegangen ist. Kron und Gombrowski sind zwar Söhne, die schwer an ihren Familiengeschichten tragen, aber in der nächsten Generation gibt es kein Äquivalent.
Amira:Es gibt viele Frauenschicksale in diesem Buch. Es gibt zwar auch die großen Männer, doch die Frauen machen es erst richtig vielschichtig. Es gibt eine Stelle an der Gombrowski über die Bedeutung der Frauen in seinem Leben nachdenkt:
„Trotzdem liebte Grombrowski seine Frauen, jede einzelne, so verschieden sie waren. Männer besaßen keine Persönlichkeit, sie waren alle gleich. Wer echtes Leben wollte, musste sich mit Frauen umgeben.“
Vgl. „Unterleuten“, S. 312.
Mit Frauen ist Entwicklung möglich, mit ihnen umgibt er sich gerne. Das ist wieder eine Seite am Gombrowski, die ihn doch zu einer meiner Lieblingsfiguren gemacht hat.
Wiebke:Eine Hassliebe. Er ist auch ein gewalttätiger Vater und Ehemann. Gombrowski ist ein fatalistischer Charakter und Machtmensch.
Amira: Und in seiner Denkweise ist seine Geschichte auch wiederum sehr traurig. Es ist wie immer in diesem Buch, wenn die Figuren ihre Perspektiven erzählen, gewinnen wir sie doch lieb. Wir können ihre Beweggründe nachvollziehen. Gombrowski will immer das Beste für das Dorf. Er möchte allen Jobs und Perspektiven eröffnen. Er reißt sich ein Bein aus, um das Land zusammenzuhalten. Aber alle jammern nur und niemandem kann er es recht machen.
Motiv: Selbstoptimierung
Wiebke:Es gibt noch ein anderes Motiv, das mich interessiert hat, da ich darin unsere Generation wiedergefunden habe. Es ist die Szene, wenn Pilz den Windpark präsentiert. Es ist die Stelle:
„Was diese Generation verband, war der unbedingte Wunsch alles richtig zu machen, keinen Fehler zu machen und damit unangreifbar zu sein.“
Vgl. „Unterleuten“, S. 151.
Ähnliche Stellen gibt es bei Linda Franzen. Sie nutzt das Buch eines Selbstoptimierung-Gurus als Entscheidungshilfe. Zwischen Pilz und Franzen habe ich eine Verbindung gesehen. Ich glaube, das sind aktuell sehr verbreitete Motive: Effizienz und Fehlerfeindlichkeit.
Amira: Klar, es gilt das Beste aus uns rausholen. Es heißt „Ressourcen nutzen”. Wir machen Yoga und achten auf die Work-Life-Balance. Das ist ein Phänomen. Pilz ist zwar sehr jung und hat keine Lebenserfahrung, aber er ist professionell oder gefühlslos. Er schafft es die Reaktion des aufgebrachten Publikums nicht auf sich zu projiziert. Er ist vollkommen distanziert. Seine Motive werden nicht erklärt. Macht er das, weil erneuerbare Energien eine gute Sache sind? Macht er das für Geld? Wir kennen seine Motivation nicht. Was lässt ihn so abgebrüht sein? Aber würdest du dich damit einschließen? Ich dachte, dass für unsere Generation Geld weniger entscheidend ist und wir eher sinnstiftende Ziele verfolgen.
Wiebke:Ich würde es auch so einschätzen, dass Geld eine geringere Rolle spielt und andere Karrierewege interessant sind. Aber mir ist kontinuierlich ein Leistungsdruck begegnet und ich merke, dass ich das verinnerlicht habe. Auch wenn ich dem nie gerecht geworden bin. Durch Zentralabitur und das Bachelor-Master-System im Studium war alles durchgetaktet. Ständig gab es das nächste Ziel vor Augen. Es gibt Regelstudienpläne, die erfüllt werden sollen und die kontrolliert werden – Meilensteine wie im Job. Falls die Bürokratie nicht erfüllt wird, muss eine Extrarunde gedreht werden. In diesen idealen Plänen gibt es keine Zeit für Fehler oder Zweifel.
Diesen Anspruch habe ich auch bei anderen Studierenden beobachtet und das ging quer durch alle Disziplinen. Es macht perfektionistisch und unkreativ – das sind zwei Eigenschaften, die es erschweren mit den Widrigkeiten des Lebens umzugehen. Die Frustrationstoleranz ist sehr niedrig. Daran musste ich denken, als ich von Franzen und Pilz las. Sie sind nicht monetär getrieben, sie haben auch keine politischen Ziele. Franzen zumindest verfolgt ein individuelles Ziel und ist damit sehr egozentrisch.
Mit etwas Überwindung ein super Buch
Amira:Es hat mir sehr viel Spaß gemacht, das Buch zu lesen. Wir hatten zwar beide zu Beginn einen Hänger, aber die Handlung und die Charaktere sind spannend. Die Geschichte bekommt so eine Dynamik. Zu Beginn werden die Figuren eingeführt und alles fühlt sich ganz bequem an. Aber als schließlich der Windpark vorstellt wird, droht alles zu eskalieren.
Wiebke:Das ist genau die Stelle, an der ich beim ersten Lesen meinen inneren Widerstand überwinden musste. Hier wurde mir klar, dass ich mich mit diesen Konflikten auseinandersetzen müsste und es lagen noch so viele Seiten vor mir. Das hätte ausufernd und anstrengend werden können. Es gibt diese zahlreichen Verstrickungen, die über die Generationen hinweg weitergegeben werden, darauf musste ich mich einlassen – und dann wurde es spannend!
Amira:Die Verstrickungen sind aber auch etwas Besonderes: Unsere Generation – wir beide sind da völlig miteingeschlossen – zieht alle zwei Jahre um. Wir kennen die Geschichten, der Orte an denen wir Leben, gar nicht mehr. Es wäre schön, das zu ändern.
Ich habe diese Ausgabe gelesen: Juli Zeh: Unterleuten, 14. Auflage (Erstauflage 2016), btb Verlag, München 2017.
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